Klimagerechtigkeit, Energiewende, Mobilität

Ein Beitrag von Adrian Grimm (Freien Waldorfschule Eckernförde)

9. Klasse, Zukunftskunst lernen –
wie ich zu Thema und Lern-Angeboten kam

9. Klasse. Ein souveränes Verhältnis zur Welt aufbauen. Verschiedene Zukunfts-Entwürfe kennenlernen, eigene Zukunfts-Entwürfe gestalten. Sagt der Richter-Lehrplan. In den Fach-Anforderungen heißt es Selbst- und Sozialkompetenz erwerben, sich mit den Kernproblemen des gesellschaftlichen Lebens auseinander setzen. Ich hab’ mich für die Epoche also auf die Suche gemacht nach einer Storyline, die möglichst viele Schüler*innen für sie interessante Angebote macht. Ein Thema, in dem sich viele Schüler*innen an unterschiedlichen Orten wiederfinden können. Immerhin soll die Epoche Angebote machen, in denen die eigene Zukunft reflektiert und gestaltet werden kann. Und gleichzeitig braucht das Thema gesellschaftliche Relevanz. Ich wollte meinen Schüler*innen die Möglichkeit geben, Gesellschaft und Zukunft als politisch gestaltbar zu erfahren. Als durch sie gestaltbar, souverän gestaltbar. Zukunftskunst lernen eben. Ich fand’ all das im Thema “Klimagerechtigkeit, Energiewende, Mobilität”.

Die Fachanforderungen schlagen ökologisch nachhaltige Entwicklung als Thema vor. Energie wird als Basiskonzept für den Aufbau einer vernetzten Wissensbasis ebenfalls empfohlen. Und der Richter-Lehrplan empfiehlt Mobilität, Strom und Spannung. Gleichzeitig ist mit Fridays For Future die größte soziale Bewegung unserer Zeit ganz aktiv an der Gestaltung der Zukunft beteiligt, deutschlandweit genauso wie global. In der Verkehrswende wirken sich politische Entscheidungen ganz akut auf den Alltag der Schüler*innen aus, durch das 9€-Ticket für den öffentlichen Nah-Verkehr zum Beispiel. Genau diese politischen Entscheidungen wirken sich aber auch sehr auf Verteilungsfragen aus, es geht um Gerechtigkeit.

Gleichzeitig findet eine Physik-Epoche nicht im luftleeren Raum statt. Nicht einmal 30 % der Physik-Student*innen in Deutschland sind Frauen. Bis heute sind 214 von 218 Physik-Nobel-Preisträger*innen Männer, 4 sind Frauen und keine offen nicht-binären Personen haben je einen Physik-Nobelpreis erhalten. Etliche Einheiten der Physik sind nach Männern benannt. Und das, obwohl es viele großartige Physikerinnen gibt: Lise Meitner und Marie Curie haben die Welt der Physik genauso geprägt wie aktuell Luisa Neubauer die Energiewende und Debatte um Klimagerechtigkeit gestaltet. Aus der Forschung ist bekannt, dass für eine spätere Entscheidung für eine Karriere eine Identifizierung mit dem Fach wichtig ist, das Herausbilden einer Physik-Identität. Um eine Identität zu bilden, ist wiederum der Kontext sehr wichtig – Schüler*innen brauchen Lern-Umgebungen, die für sie relevant sind. Mein Anspruch war es, allen Schüler*innen diese Lern-Umgebungen in der Physik-Epoche zu bieten. Und vor dem Hintergrund der aktuellen Ungleichheiten in Bezug auf Geschlecht in der Physik war es mir ein besonderes Anliegen, für weibliche und nicht-binäre Schüler*innen relevante Kontexte zu finden. Dieser Fokus soll der gewachsenen Ungleichheit entgegenwirken. Ich nenne die entstandenen Unterrichtsmaterialien daher feministisch.

Herausgekommen ist eine Unterrichtseinheit, die Schüler*innen diese Lernangebote macht: Auf Ebene der Haltungen meine Physik-Identität reflektieren, Technik verstehen & mit-gestalten, und meine Haltung zu Klimagerechtigkeit reflektieren. Auf Ebene der Fähigkeiten Diskriminierung erkennen & benennen, Elektromotoren verstehen, Schaltbilder verstehen und zeichnen, an Demonstrationen teilnehmen. Und auf Ebene des Wissens eine Auseinandersetzung mit Stromstärke in Stromkreisen, elektrischer Energie, CO2-Emissionen & -Budgets, und der Funktionsweise eines Elektromotoren. Und so sieht die Unterrichts-Einheit aus:

Kurzbeschreibung der Unterrichtseinheit

In der Unterrichtseinheit “Klimagerechtigkeit, Energiewende, Mobilität” durchleben wir ein Szenario: Wir sind ein Taxi-Unternehmen mit 28 Taxis mit Verbrennermotoren. Für die nächsten 9 Jahre bekommen wir politisch ein Emissionsbudget vorgeschrieben. Wir wissen, dass wir einige Verbrenner- auf Elektromotoren umstellen müssen, wir wissen aber nicht wie viele und ob wir lieber früh, gleichmäßig oder spät umstellen. Dafür bauen wir Modelle von Elektromotoren, messen diese durch und finden so heraus, welche Reduktions-Szenarien denkbar wären. Die Reduktions-Szenarien diskutieren wir und alle Schüler*innen können sich für ihr favorisiertes Szenario entscheiden und dabei gleichzeitig die Argumente der Mit-Schüler*innen für die anderen Szenarien hören und würdigen. Ungleichheitssensibel und feministisch gerahmt ist die Unterrichtseinheit durch die Auseinandersetzung mit Biografien von Physikerinnen und Ingenieurinnen. Idealerweise können die Schüler*innen sogar Physikerinnen oder Ingenieurinnen interviewen: live per Videokonferenz mit selbstständig vorbereiteten Fragen. Alle Schüler*innen gestalten zu jeweils einer Physikerin oder Ingenieurin oder einem Thema über den Zeitraum der ganzen Unterrichtseinheit ein Poster. Diese Poster präsentieren wir uns am Ende in einer Galerie – genauso, wie Wissenschaftler*innen sich untereinander auf Konferenzen austauschen.

Aus dem Nähkästchen geplaudert

Eine große Stärke der Epoche sind aus meiner Sicht die vielen Zugänge zur Physik: Die ersten Schüler*innen finden Klimagerechtigkeit spannend. Die nächsten haben sich noch nie mit Physikerinnen auseinandergesetzt: Wie, es gibt Frauen die berühmte Tänzerinnen sind und Physik machen? Was, ich werde eine junge Ingenieurin interviewen können und mir dafür selbst Fragen überlegen? Einige Schüler*innen fanden es auch super, dass sie Ingenieur*innen auf Englisch interviewen konnten. Englisch war hier ein Zugang zu Ingenieur*innen aus Nigeria oder Jordanien. Die Interviews selbst haben wir per Video-Konferenz durchgeführt. Das nächste Angebot für einen Zugang zur Physik bestand dann aus der Diskussion von Sprüchen, die auf Demonstrationen gesungen werden: Was singen die jungen Menschen bei Fridays For Future? Was wird gefordert? Finde ich das gut? Warum – und warum nicht? Da werden unterschiedliche Positionen in der Klasse sichtbar, diskutiert, ausgehandelt. Das kann schwierig und herausfordernd sein. Aber eine wertschätzende Moderation durch die*den Lehrer*in kann das Potenzial für Gestaltung und souveränes Handeln von allen Anwesenden sichtbar machen. Diese Diskussionen, dieser Austausch, die haben wieder einige Schüler*innen abgeholt.

Mit dieser Basis sind wir dann in technsiche Details eingetaucht: Wir brauchen physikalische Messungen, um unsere Diskussion um CO2-Reduktionen in unserem Taxiunternehmen faktenbasiert zu führen. Welche Szenarien sind denn überhaupt denkbar? Wie werden aus unseren Messwerten Reduktions-Szenarien? Und warum brauchen wir überhaupt genau diese Messwerte, wie funktioniert so ein Elektro-Motor überhaupt? Da haben alle Schüler*innen dann ihren eigenen Elektro-Motor gebaut, ihn in der Hand gehabt. Und zum Abschluss haben wir eine große Diskussion mit mehreren Stimmungsbildern geführt, uns über Poster von den Interviews erzählt und den großen Bogen zur politischen Gestaltbarkeit der Zukunft geschlagen. Und eben zur eigenen Rolle darin, einer sourveränen Rolle, der eigenen Identität.

Open Educational Resources (OER)

Zur gesamten Unterrichts-Einheit teile ich alle von mir erstellten Materialien mit Dir. Hier ein Überblick, was Dich in dieser Material-Zusammenstellung erwartet. Konkret teile ich sogenannte Open Educational Resources (“OER”) unter der Lizenz CC-BY-SA. O-E-was? Das sind Materialien, die zum Teilen gedacht sind. Du darfst die Materialien also kopieren, selbst benutzen und weiterentwickeln, ganz legal. Und dabei verletzt Du keine Lizenz-Rechte. Das bedeutet allerdings nicht, dass es keine Lizenz-Rechte gibt. Die Lizenz ist nur ein “Copy-Left”, hier eine Creative Commons (“CC”). Sie erlaubt Dir also das Kopieren unter bestimmten Bedingungen. In diesem Fall musst Du die Autor*innen nennen (“BY”) und ggf. überarbeitete Materialien unter den gleichen Bedingungen veröffentlichen (“SA”, share alike). Konkret findest Du in diesen Unterrichts-Materialien das hier:

Hier ist der Link zu den vollständigen Materialien:

https://drive.proton.me/urls/69TXX28S5M#HxqwTXDEyHVn

Viel Spaß damit! :-)

 

Rückblick auf die Epoche

Die Schüler*innen haben die Angebote der Epoche aufgegriffen. Dabei haben sie basierend auf den Angeboten unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt: Einige Schüler*innen haben sich mehr auf die Biografie- und Interview-Arbeit konzentriert, andere haben im technischen Teil mehr Leidenschaft gezeigt und wieder andere waren insbesondere bei den Diskussionen engagiert. Insgesamt war die Klasse in besonderem Maße wertschätzend und engagiert in den Diskussionen. Statt ein paar wenigen Diskutierenden hat stets eine große Anzahl auch wechselnder Schüler*innen diskutiert.

Beim nächsten Mal würde ich darüber nachdenken, ob ich die Ingenieurinnen und Physikerinnen nicht für die Poster-Gallerie auch noch einmal in die Klassen holen kann. Das würde den Rahmen durch die wiederholte Begegnung wunderbar ziehen. Außerdem könnten Schüler*innen ihre Fragen, die nach dem Interview und im Laufe der Einheit aufkommen, auch noch direkt stellen und hätten so nach Vorbereitung und Durchführung erneut die Möglichkeit in den direkt Austausch zu kommen. Nicht zuletzt würde das dem offiziellen Charakter der Veranstaltung stärken, weil externe Gäste anwesend sind. Der offizielle Charakter wiederum wäre eine weitergehende Wertschätzung der einzelnen Leistungen und des Engagements aller Schüler*innen bei der Poster-Erstellung und würde sich so als Selbstwirksamkeits-Erfahrung anbieten.

Insgesamt bin ich mit der ersten Durchführung der Unterrichts-Einheit sehr zufrieden, weil die Lernzielangebote alle von Schüler*innen aufgegriffen und engagiert mit Leben gefüllt wurden - über die Schüler*innen und Angebote verteilt in unterschiedlichem Maße, aber doch insgesamt alle. Gemeinsam haben Schüler*innen und Lehrer*in feministischem Physik-Unterricht umgesetzt, in dem Physik an gesellschaftlichen Herausforderungen gelernt und die Rolle der Physik in politischen Diskursen sichtbar wird.