Reale Vorstellung wichtigster Lebenszweige

Rudolf Steiner, GA 301, 14. Vortrag

[…] Ferner sollte der Unterricht zwischen dem 12. und 14., 15. Jahre so eingerichtet werden, dass das Kind, wenn es etwa 15 Jahre alt geworden ist und die Volksschule verlässt oder in eine höhere Schule hinauf rückt, von den wichtigsten Lebenszweigen eine wirkliche, reale Vorstellung hat.

Ich weiß, dass gegen diesen Grundsatz gewöhnlich eingewendet wird: Ja, woher soll zu alledem die Zeit genommen werden? Woher soll die Zeit dazu genommen werden, dass das Kind eine wirkliche Vorstellung davon hat, wie Papier fabriziert wird, wie man Seife, wie man Zigarren fabriziert und so weiter? Dennoch, wenn man die Sache ordentlich einrichtet, so kann man das Typische zusammenfassen, zum Beispiel typische Industrien oder Verkehrsverhältnisse darstellen. Man kann es dahin bringen, dass das Kind nicht wie jemand durch die Welt geht, dem für alle möglichen Verhältnisse Scheuleder angelegt sind, sondern dass es weiß, um was es sich eigentlich handelt in der allernächsten Umgebung, der es gegenübersteht. Wir erleben es ja wirklich, dass Stadtkinder keine Ahnung davon haben, wie die Gerste sich vom Weizen unterscheidet. Wir erleben es auf der anderen Seite, dass Kinder, in deren Nähe vielleicht nicht gerade eine Seifenfabrik ist, keine Ahnung davon haben, wie Seife fabriziert wird; aber manchmal, wenn eine Seifenfabrik in der Nähe ist, wissen trotzdem die Kinder nicht, wie Seife fabriziert wird, weil nicht darauf gesehen wird, dass der Mensch tatsächlich mit dem bekannt gemacht werde, was eben die Menschheit heute in ihrer Umgebung hat, und wodurch sie zu dem Standpunkt der Kultur- und Zivilisationsentwickelung kommt, auf den sie gekommen ist. Es ist wahrscheinlich wenig Neigung gerade in der Gegenwart vorhanden, mit Imponderabilien in der Menschheitsentwickelung überhaupt zu rechnen.

Bedenken Sie, wie viele Menschen heute in einen Tramwagen ein- und wiederum aussteigen, ohne auch nur eine oberflächliche Idee davon zu haben, wie ein solcher Wagen eingerichtet ist und in Bewegung gesetzt wird und so weiter. Natürlich darf man bei dem, was ich jetzt sage, nicht radikalisieren, aber im Wesentlichen gilt es doch: Wir bedienen uns heute fortwährend der Kulturmittel, ohne dass wir eine Ahnung haben, was in diesen Kulturmitteln wirkt. Wir sind nicht zum geringen Grunde gerade aus diesen Ursachen heraus ein nervöses Geschlecht geworden. Denn wenn wir fortwährend von Verhältnissen umgeben werden, die wir nicht durchschauen, werden wir verwirrt, wenn auch die Verwirrung nur auf unser Unterbewusstsein wirkt. Natürlich kann der Mensch nicht alle Einzelheiten des heutigen komplizierten Lebens kennen; aber dennoch, das ist zu erreichen gerade in der Zeit, wo sich die Fähigkeit des Menschen gegen das 12. Jahr hin gestaltet, dass das Urteilsvermögen hereinleuchtet, das mit der Geschlechtsreife herauskommt. In dieser Zeit ist es möglich, dass man das Kind bekannt macht mit dem Wichtigsten, was uns das praktische Leben entgegenbringt. […]

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