Das Gottesurteil
Wenn die Richter über Schuld oder Unschuld eines Angeklagten im Zweifel waren, riefen sie das Gottesurteil an. Sie waren überzeugt, der gerechte und allwissende Gott werde die Wahrheit offenbaren, wenn man ihn nur ernstlich darum bitte und ihm Gelegenheit gebe, zu antworten. Diesem Zweck dienten seltsame Proben:
Loswerfen: Man warf unter feierlichen Gebeten das Los.
Wasserprobe: Der Angeklagte wurde mit kreuzweise zusammengebundenen Händen und Füssen ins Wasser geworfen. Schwamm er obenauf, so war er schuldig.
Kesselfang: Der Angeklagte musste einen Gegenstand aus siedendem Wasser ziehen. Verbrühte er dabei den Arm, war er schuldig.
Feuerprobe: Der Angeklagte musste im Hemd durch ein Feuer schreiten, ein glühendes Eisen neun fuss weit tragen oder barfuss über neun glühende Pflugschare gehen. Erlitt er dabei schwere Verbrennungswunden, so war er schuldig.
Bahrrecht: Die Wunden eines Ermordeten fingen wieder an zu bluten, wenn der Mörder an die Totenbahre trat.
Zweikampf: In einem Waffenkampf zwischen zwei Beschuldigten siegte immer der Unschuldige.
Kreuzprobe: Die Verdächtigen wurden vor ein Kreuz gestellt. Wer die ausgestreckten Arme zuerst sinken ließ, war schuldig.
Bei einzelnen Proben, besonders beim Zweikampf, durfte sich der Angeklagte durch jemand anders vertreten lassen. Gott ließ auf jeden Fall die unschuldige Partei siegen.
Während des ganzen Mittelalters wurden solche Proben zur Erlangung des Gottesurteils durchgeführt, am häufigsten im 11. /12. Jahrhundert. Kaiser Friedrich II. erließ 1231 ein Verbot derselben. Er spottete über die Meinung, das glühende Eisen erkalte in der Hand des Unschuldigen und das Wasser nehme den Leib eines Verbrechers nicht auf, weil dieser ein schlechtes Gewissen habe. «Diese Gottesurteile, die man Wahrheit-enthüllende nennt, sollten besser Wahrheit-verhüllende heißen», behauptete er. Aber sein Verbot wurde nicht befolgt. Erst gegen Ende des Mittelalters gaben die Menschen den Glauben an die Gottesurteile allmählich auf. An Stelle der genannten Proben trat jetzt die Folter, die statt Gott den Angeklagten selber zwingen sollte, die Wahrheit zu sagen.