Das Ende der Normalität
Ein Buch von Gabor Steingart
Ein hervorragendes und spannendes Buch. Es sei jedem Lehrer und Erzieher empfohlen! Mit unseren Kindern entsteht eine neue Spezies Mensch, wie es im 2. Kapitel des Buches heißt. Sie atmen einen anderen Geist. Dieses Buch fängt einiges davon ein.
Eine neue Spezies Mensch entsteht
Natürlich gibt es auch heute noch das Elternhaus, den Arbeitsplatz und die Kirche, aber ihre Anziehungskraft wird schwächer. Auf viele Menschen wirkt sie gar nicht mehr. Das Elternhaus ist verkauft, aus dem Arbeitsplatz wurde ein Job, die Kirche besitzt für viele nur noch dekorative Bedeutung. Die Identifikation von Volk und Kirche schmilzt dahin, klagte Papst Benedikt XVI. kürzlich in einem Interview.
An die Stelle der einen großen Wirklichkeit ist eine Vielzahl von Flüchtigkeiten und Instabilitäten getreten, bilden sich Gruppen und Zustände, entstehen Stimmungen und Überzeugungen, die kurz darauf schon wieder zerfallen, um sich neu zu konfigurieren. Eine Welt der ungezählten Wirklichkeiten ist entstanden. Der Einzelne hat nicht nur die Möglichkeit, sich von anderen radikal zu unterscheiden, er nutzt sie auch. Der eine hebt sein Bildungsniveau, so wie der andere seine Gesäßbacken liften lässt, einer treibt seine Karriere voran, der andere sich selbst einen Metallring durch Nase, Zunge oder Bauchnabel. Man kann die Computerwelt revolutionieren, aber mit dem gleichen Recht auch Vogelspinnen züchten, Weihnachten im Sommer feiern, Mitglied der Piratenpartei werden oder einer jener Extremblogger, die sich nachts zum Selbstgespräch im Internet versammeln. Es gibt keine große Idee, die nicht geträumt werden kann. Und es gibt keine noch so idiotische Nische, in der nicht schon einer hockt.
Der bisherigen Normalität hat die Vielzahl der Wirklichkeiten nicht sonderlich gutgetan. Die Zahlen für die Beweisaufnahme liegen auf dem Tisch: In manchen Städten gibt es mehr Scheidungen als Eheschließungen. Die Zahl der Kirchenbesucher hat sich miniaturisiert, in Ostdeutschland zählt man mehr Ungetaufte als Christen. Nur eine Minderheit verbringt ihr Arbeitsleben noch bei einem Arbeitgeber. Die Zahl der Großstadt-Psychopathen wächst schneller als die Zahl der Internetnutzer. Bei der letzten Bundestagswahl gab es mehr Nichtwähler als Merkel-Wähler. Wenn die SPD-Mitgliederentwicklung so weitergeht wie in den letzten 40 Jahren, macht im Jahr 2050 der letzte Sozialdemokrat im Willy-Brandt-Haus das Licht aus.
Das Folgenreiche dieser Entwicklung ist nicht das Schwächerwerden des alten Magnetismus. Das Neue und Aufregende, das den Beginn unseres Jahrhunderts Prägende, ist die Tatsache, dass die alten Ordnungskräfte des Lebens durch keine neuen ersetzt wurden. Wir leben in einer Zwischenzeit. Erst dieses Nicht-Ersetzen der alten Kräfte reißt die Welt aus ihren bisherigen Verankerungen und schafft unsere brüchige Gegenwartswelt. Lord Dahrendorf sprach von der »Welt ohne Halt«. Keiner kann sie halten, und wir finden in ihr keinen Halt.
Für den Einzelnen ist diese Tatsache eine unerhörte, eine ihn verstörende und zugleich erregende Botschaft: Er ist frei. Es gibt keine vorhersehbare Zukunft mehr. Er ist nicht mehr nur Zeuge seiner Biografie. Die große gesellschaftliche Prägemaschine hat ihn aus ihren metallischen Pressbacken entlassen. Niemand besitzt mehr eine Vetomacht über das Leben der Anderen. Endlich wird das Leben zur Chefsache.
Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte waren wir derart unabhängig von den uns umgebenden Mächten. Es ist, als habe jemand die Großmagneten ausgeschaltet. Priester, Fabrikant, Parteifunktionär, Universitätsprofessor, Vater und Mutter oder auch Günter Grass, Alice Schwarzer und Helmut Schmidt, sie alle tanzen noch immer um uns herum, aber wir sind ihnen nicht mehr Schicksalhaft verbunden. Früher konnten sie bestimmen, was der Einzelne zu tun und zu denken hat, heute werben sie darum, dass man ihnen zuhört. Der Tanz des Lebens geht weiter, aber erstmals herrscht freie Partnerwahl.
Die Sanktionsinstrumente, mit deren Hilfe die alten Mächte einst die Normierung der Gesellschaft durchsetzen konnten, stehen nicht mehr zur Verfügung. Der spontane Rausschmiss eines Arbeiters, der Verstoß des schwarzen Schafes aus dem Familienverband, die Exkommunikation des angeblich Ungläubigen, das Einkerkern der Andersdenkenden sind heute verboten oder auf andere Art wirkungslos gemacht. Die Schwerter in den Händen der alten Mächte sind stumpf geworden. Den alten Eliten fehlt die Fähigkeit, Andersartigkeiten unterdrücken zu können. Auch ihre Deutungs- und Definitionshoheit schwindet. Frauen definieren Frausein, ohne Alice Schwarzer um ihr Einverständnis zu bitten. Es gibt eine Literatur jenseits von Grass.
Natürlich schlummerten auch schon früher Millionen von Wünschen und Sehnsüchten in der Gesellschaft, doch es waren Wünsche, die nicht ausgelebt wurden. Eine Betonplatte aus Normen und Traditionen, Gewohnheiten und Erwartungen, Erlassen und Diktaten, Stupiditäten und Borniertheiten lag über ihnen. Diese Betonplatte wurde in jüngster Zeit gesprengt, und seither sprießt ein urwüchsiger Individualismus, der blaue, rote, grüne, zuweilen auch hässliche Blüten treibt. Die Konservativen sprechen vom Zerfall der Gesellschaft, die Werbeindustrie von ihrer Fragmentierung, Jürgen Habermas von Ausdifferenzierung, Charles Taylor von Atomisierung, Anthony Giddens klagt über die »Diskontinuitäten der Moderne«, so wie Hans Magnus Enzensberger über die »Idiotie der Gleichzeitigkeit«. Sie alle meinen das Gleiche. Die alte Normierung der Gesellschaft hebt sich auf. An ihre Stelle tritt keine neue Normierung, sondern eine Inflation der Wirklichkeiten, das Nebeneinander von falsch und richtig, die friedliche Koexistenz von Widersprüchen. Wir erleben in unserer Gegenwart nicht das Ende der einen und den Beginn einer anderen Normalität, sondern das Ende von Normalität. Die Gesellschaft wechselt ihren Aggregatzustand von fest auf flüchtig. Das Leben, wie es bisher war, verabschiedet sich.
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