Zur Frage der Dreiteiligkeit des Hauptunterrichtes

von Christof Wiechert

Eine Gesprächsanregung

Präambel

In einem Beitrag zur 90 Jahrfeier der Waldorfschulen, erschienen in 'Das Goetheanum', Ausgabe 39 vom 25. September 2009, wurde am Ende auf drei Aufgaben hingewiesen. Die erste sei, ein neues Gleichgewicht herzustellen zwischen Form- und Impulskräften innerhalb einer Schule und der Schulbewegung.

Die zweite, so meinte der Autor, solle das gewordene pädagogische Gewohnheitsleben hinterfragen und prüfen. Ist das, was wir tun, (noch) das Richtige?

Als dritte Aufgabe wurde genannt, es sei ein neues Bewusstsein zu schulen und zu üben über Sinn und Inhalt der Steinerschen Erziehungskunst. Sie stelle einen Paradigmenwechsel dar zu allen herkömmlichen Erziehungspraxen. Dieses Bewusstsein bräuchten wir, um die Zukunft dieser Erziehungskunst zu gestalten.

Diese drei Aufgaben formulierte der Autor auch in seinem Vortrag am Kongress 'Waldorfschule: 90 Jahre Zukunft' am 23. Oktober 2009 in Stuttgart.

Dieser Beitrag soll den zweiten Handlungsbedarf thematisieren, das Hinterfragen des gewordenen Gewohnheitslebens der pädagogischen Praxis an Waldorfschulen. Es wird an einem Beispiel erarbeitet und soll als Anregung dienen, sich in diesem Sinne mit anderen Themen zu beschäftigen. Als Thema ist gewählt worden die üblich praktizierte Dreiteiligkeit des Hauptunterrichtes mit Beginn des Schultages.

 

Zusammenfassender Vorblick

Im Folgenden soll dargestellt werden, dass die klassische Unterteilung des Hauptunterrichtes in den Schulstufen 1 bis 8 in rhythmischen Teil, Arbeits- und Erzählteil, die Lebensvorgänge einer Klasse in dieser Morgenzeit prägt. Diese Prägung ist stark und wird undiskutiert als ein Wesensmerkmal der Praxis der Waldorfschule betrachtet. Es soll gezeigt werden, dass für diese Einteilung keinerlei Anhalt in den Äusserungen oder Angaben Steiners vorhanden ist. Des Weiteren soll dargestellt werden, dass diese Einteilung dem notwendigen rhythmischen und künstlerischen Tun im Wege steht und dass sie ein Hemmschuh für Lernvorgänge darstellen kann. Auch wird gezeigt werden, wie diese Einteilung des Morgens in wichtigen Teilen der Menschenkunde widerspricht. Zum Schluss wird dargestellt wie Schüler auf Grundlage dieser Dreiteilung in ihrem Verhalten beurteilt werden.

 

Einleitung

Keine Lehrerin oder kein Lehrer wird sich mit seinen Schülern nicht einen sinnvollen Einstieg in den Tag einfallen lassen. In den unteren Klassen macht man vielleicht einen Morgenkreis oder verschiedene Kinder erzählen ihre Erlebnisse. Oder man singt ein Lied, übt einige Zungenbrecher oder löst die Rätsel, die am Vortag gestellt wurden oder die Kinder zeigen sich gegenseitig, was sie zu Hause gemacht haben. In höheren Klassen wird vielleicht ein Gedicht gesprochen und Kopfrechnen geübt. Oder man klatscht einen Rhythmus, der dann variiert wird. Kurz, die Einstimmung auf den Schultag ist ein ganz besonderer Moment: Der Tag ist noch neu, alles ist Verheissung. Alles ist Potenz. Wie empfange ich die Schüler? Wie beginnt der künstlerische Prozess?

Alles ist neu, dieser Tag war noch nie da! Noch weiss niemand, was werden wird, was dieser besondere Tag bringen wird. Man tastet, legt noch nichts fest, man spürt die Stimmung und sucht den Einstieg. Ist jetzt der Moment für den Morgenspruch oder doch besser erst das Lied? Sind sie schon 'da' die Kinder? Noch nicht ganz. Vielleicht wird mit den Kleinen noch eine 'Echo-Übung' gemacht, um die Leibesgeographie zu spüren. Die Ballübungen, zur Integration des Seh-, Hör- und Bewegungssinns aber werden in der Pause auf dem Schulhof oder, wenn es regnet, im Gang gemacht, jetzt nimmt das zu viel Zeit. Auf jeden Fall darf es nicht zu lange gehen mit dieser Einstimmung, denn der Morgen wird noch vieles bringen. In fünfzehn Minuten wird versucht, so weit zu sein, dass der Morgenspruch gesprochen werden kann. Kurz, die Einstimmung ist ein höchst individuelles Geschehen zwischen LehrerIn und Schülergruppe. Viel kommt auf die Stimmung an. Was ist eine Morgenstimmung durch die Jahreszeiten hindurch? Wie geht man vom zarten Tagesbeginn im Vorfrühling über zum Tagesgeschehen? Wie macht man das im Winter in der Adventszeit, wie im Sommer?

Ein festgelegter, programmierter rhythmischer Teil mit festen Bestandteilen, wie wirkt der?

Gedicht sprechen, Flötespielen, Zeugnissprüche, Lied singen, Morgenspruch, wie wirkt das am Morgen?

Wie wirkt es auf Kinder und Schüler, wenn dieser Teil sich über eine halbe Stunde ausdehnt, oft sogar eine Dreiviertelstunde in Anspruch nimmt? Was nehmen wir wahr? Steigt die Konzentration oder sehen wir Ermüdung und mit steigendem Alter Demotivation (die als Willensschwäche interpretiert wird)? Ist die Erwartung des Tages schon durch den Beginn enttäuscht, da er nur bringt, was schon war? Wird nicht die gespannte Erwartung dessen, was der Tag bringen mag schon im Voraus gelähmt, wenn das Kind die Schule betritt in der halb bewussten Gewissheit, dass es wieder lange gehen wird bis das Lernen beginnt, bis etwas Neues erscheinen wird. Wie entwickelt sich die Motivation heute in Anbetracht eines Gewohnheitslebens im rhythmischen Teil, dass sich durch Jahre nicht verändert und in seinem Ablauf beibehalten wird?

Wie ist es mit der Zeitfrage? Wenn sich dem 'Arbeitsteil' noch ein 'Erzählteil' anschliessen muss, ist dann genug Zeit vorhanden, um Neues aufzunehmen und zu lernen? Muss der Erzählteil notwendigerweise am Ende des Hauptunterrichtes sein? Wie intensiv ist unser Unterricht, wie stark sind die Lernerlebnisse, die notwendig sind für das kindliche Selbstverständnis und daher auch für die Motivation? Welcher Rhythmus ist der gesundende? Ist diese Dreiteilung Ursache des möglichen Schlendrians im Hauptunterricht? Welche Gewohnheitsbildung ist berechtigt, wo sind ihre Grenzen? Welche Gestaltungsräume werden dem Hauptunterricht durch diese Einteilung genommen?

Alles bedeutende Fragen. Fragen, die unmittelbar die Unterrichtsqualität berühren.

 

Begründungen

Zur Dreiteilung des Hauptunterrichtes (Epochenunterricht) gibt es keinen Anhaltspunkt im Werk Steiners, weder in den Vorträgen noch im Korpus der Konferenzen. Das muss auch nicht unbedingt der Fall sein, wenn etwas Sinnvolles entwickelt werden würde. Das Neue muss dann aber dem Verständnis durch die Menschenkunde entsprechen. Man findet aber in der Literatur keinerlei Begründungen ausser Allgemeinheiten wie 'alles Tun braucht Rhythmus' (Georg Kniebe). Das ist wahr, nur die Frage ist, bedeutet diese Dreiteilung Rhythmus oder Schablone?

In dem Kapitel 'Elemente des Waldorfunterrichtes' (S. 86) des Buches 'Die Zukunft der Waldorfschule' ist der Autor dieses Kapitels, Peter Loebell, vorsichtig. Er benennt die verschiedensten Gestaltungsmöglichkeiten des Hauptunterrichtes, aber vermeidet, sie einer Dreiteilung zuzuordnen (1). Meines Erachtens ein richtiges Vorgehen.

In 'Zur Unterrichtsgestaltung im 1. bis 8. Schuljahr an Waldorf / Rudolf Steinerschulen' schreibt Thomas Stöckli, dass Steiner die Dreiteilung so nicht benannt hat und dass die Lehrer sich frei fühlen sollen zur 'individuellen Gestaltung nach Einsicht des Lehrers' (S. 25) (2).

Alle anderen Literaturhinweise nehmen die Dreiteilung des Hauptunterrichtes als selbstverständliches Formmerkmal des Hauptunterrichtes hin (3).

Wenn also die Dreiteilung nicht auf die Angaben der Erziehungskunst zurückgreifen kann, so erscheint sie auf einmal ohne eine andere Begründung, als dass sie den Kindern hilft, sich zu konzentrieren (4) oder sie wach macht oder atmen lässt. (5) Nun sind es aber diese Qualitäten von denen die Erfahrung zeigt, dass sie gerade nicht durch den rhythmischen Teil und andere Teile zustande kommen. Der Rhythmus entsteht nicht durch eine Gliederung des Hauptunterrichtes und durch Gedichte und Singen, etc. Rhythmus entsteht nur durch die Art wie der/die LehrerIn unterrichtet.

Um zu einem Verständnis der Vorgänge zu kommen, muss zuerst auf die Tageszeit und auf das Phänomen Schlafen und Wachen geschaut werden.

 

Tageszeit, Zeit und Gewohnheitsbildung

In der Regel wird der Hauptunterricht am Morgen gegeben. In einer allgemeinen Anweisung gibt Steiner an, dass der Morgen zum Lernen gebraucht werden solle, der Vormittag zu allem was auf Wiederholung beruht und der Nachmittag für Künstlerisches. (6)

Jede Schule muss wenigstens danach streben, etwas in dieser Richtung möglich zu machen, was kleinen Schulen sicherlich leichter fällt als grossen.

Es sind die hygienischen Fragen des Stundenplanes.

Was aber ist ein Morgen? Am Morgen sind wir (auch Kinder und Schüler) andere Wesen als zu anderen Momenten des Tages. In der Selbstwahrnehmung kann man einiges beobachten. Der Morgen macht empfänglicher, offener für das, was kommt, aber auf aktive Weise. Am Abend ist die Empfänglichkeit rezeptiver. Wenig ist man noch von Vorstellungen der Tageserlebnisse 'besetzt', am Nachmittag sind die Sinne bereits mit Eindrücken überflutet. Es ist wahr, die Morgenstund' hat Gold im Mund. Es gibt eine amerikanische Studie, die zeigt, dass schon durch eine Verschiebung um eine halbe Stunde am Morgen sich die Lernergebnisse sowie die Aufnahmefähigkeit des Schülers ändern. Zu früh ist zu früh und zu spät ist zu spät. Das Timing zum Lernen am Morgen muss ziemlich genau eingehalten werden.(7)

Ein Anderes ist, wie wir selber mit der Zeit umgehen? Gebrauchen wir sie als eine lineare durch den Tag verlaufende Konstante oder gebrauchen wir sie als eine Qualität? Im ersteren Fall werden wir daran schnell ermüden (und die Schüler auch), im zweiten Fall wird die Zeit zum Puls zwischen Konzentration und Entspannung. Das kann zum Rhythmus werden, nicht durch die Schablone einer Einteilung, sondern dadurch, dass der/die LehrerIn den Puls der Zeit durch die Aktivität atmen lässt, Spannung, Entspannung, auf einen Punkt beziehen,ausweiten und differenzieren, kurz: Atmen. Auch das Herz gibt hierzu ein bedeutendes Bild, das der Systole und Diastole. Der Lehrer wird zum Zeitkünstler, wenn er die Zeit so verwendet. (In der Eurythmie spricht man von 'Ballen und Spreizen').

Allgemein ist das Bestreben, den Kindern und Schülern 'richtige Gewohnheiten' beizubringen, denn diese bilden einen Teil der sich entwickelnden Lernfähigkeit. Ein durchaus sinnvolles Streben. Wie macht man das? Es ist im hohen Mass eine Gleichgewichtsfrage der Lehrerin und des Lehrers. Man kann es mit einem musikalischen Empfinden vergleichen, zwischen Spannung und Entspannung, zwischen leise und laut, zwischen schnell und langsam, hoch und tief. Ist diese Gleichgewichtslage nicht vorhanden, entsteht die Ritualisierung der Gewohnheiten. Die berechtigte Gewohnheitsbildung ist dann der Gefahr ausgesetzt Selbstzweck zu werden. Hierdurch entsteht ganz ungewollt eine Behinderung des Lernwillens, der 'Lernbegierde' der Kinder, denn diese wird nicht oder nicht genügend angesprochen.

Wenn das der Fall ist, geht das Tor pädagogisch unerwünschter Machtverhältnisse und Einflussnahmen auf, die ein gesundes Lehrer-Schüler Verhältnis beeinträchtigen. Das geschieht, wenn die Lehrerin oder der Lehrer unter dem Diktat des Rituals steht. Das freie Mit-einander ist verschwunden. (Siehe Abschnitt Beurteilungen und Zeugnisse.) (8)

Das führt zur Unruhen in den Seelen, denn die haben sich am Morgen für das Lernen gestimmt, nicht für das Durchlaufen irgendeines Rituals.

Der 'Rhythmische Teil' bekommt Ritualcharakter, wenn zum Beispiel die Schüler der sechsten Klasse am Wochentag ihres Geburtstags ihren Zeugnisspruch vor der Klasse aufsagen müssen. (Wir sehen jetzt ab von der Frage, ob diese Gewohnheit psychologisch diesem Alter angemessen ist.) An sich ist die Gewohnheit nicht schlecht. (Auch wenn man nach einem halben Jahr doch hoffen muss, dass der Spruch sich erledigt hat: Der Schüler hat sich weiter entwickelt, über den Spruch hinaus.) Ist dieser Vorgang aber nicht gegriffen, sieht man das Ritual: ein möglichst uninteressierter Schüler sagt seinen Spruch vor einer gelangweilten 'Masse' Schüler auf. Der Vorgang bringt niemandem etwas. Dauert aber ab einer gewissen Klassenstärke leicht zehn bis fünfzehn Minuten. Zählt man dazu die übrigen Elemente dieses Morgenteiles ist schnell kostbarste Zeit verflogen. So wage ich auch zu bezweifeln, ob Flötespielen am Morgen die richtige Aktivität ist. Man schaue einmal einer Gruppe Kinder zu, die am (frühen) Morgen flötet und einer Gruppe Kinder, die das am (späteren) Vormittag im Musikunterricht macht. Ein grosser Unterschied ist wahrzunehmen. (Ein Unterschied, den man merkwürdig genug, am Singen nicht so wahrnimmt.) Auch das viel gelobte Stampfen am Morgen, was bewirkt es? Man sieht, dass es die Kinder müde macht statt wach. Stampfen macht müde, nicht wach.

Der wirkliche Rhythmus, den wir immer beachten müssen, ist nicht der zwischen Teilen des Hauptunterrichtes, sondern der, der sich an den Kindern und Schülern offenbart. Wann ermüden sie, wann werden sie wach? Das ist der Gesichtspunkt. Wer nach diesem Prinzip unterrichtet, baut die Hälfte der Disziplinschwierigkeiten schon dadurch ab.

Betrachten wir den Vorgang vom Gesichtspunkt der Menschenkunde.

Alles was wir leiblich tun, was wir durch den Tatwillen tun, zum Beispiel uns bewegen, herumgehen im Reigen, stampfen mit den Füssen, klatschen, alle diese Aktivitäten sind ihrem Wesen nach geistiger Natur. Vollbracht durch eine Vorstellung, die sich wie 'magisch' umsetzt in eine Bewegung. So charakterisiert Steiner das Turnen als das geistigste Fach (!). Die Eigenart dieser geistigen Betätigung, zum Beispiel einer Bewegung, ist, dass man mit seiner Wachheit da nicht drinnen ist. Im Willen schläft man. Daher ermüden diese Betätigungen. Sehr verbreitet ist die Idee, man stampfe mit einer Gruppe Kinder kräftig herum, um sie wach zu bekommen. Tatsächlich bewirkt man das Gegenteil. Man kann es beim Einüben des Einmaleins wahrnehmen, wenn das an Bewegungsvorgänge gekoppelt ist. Man sieht dann die Schüler den Ablauf 'wie im Traume' vollbringen.

Im Chor gesprochen entsteht eine Art 'Trance'; es wird wie im Schlaf vollbracht. Der Lehrer tut gut daran, diese Koppelung der Schlafesbewegung zeitig zu entkoppeln zum Erwachenwissen. (9)

Wenn nun diesem rhythmischen Teil ein 'Arbeitsteil' folgt, wo dann die Schüler unabhängig vom Unterrichtsstoff, das aufnehmen müssen, was von der Lehrerin oder vom Lehrer kommt, dann hat man die Intentionen der Erziehungskunst ausgehebelt. Denn diese gehen davon aus, dass das Rhythmische gerade jetzt beim Lernen in der oben beschriebenen Art einsetzt. Wenn das Dargestellte Leben wird, macht es nichts aus wie lange ein 'Arbeitsteil' dauert, er kann eine Stunde gehen, es kann kürzer oder es kann länger sein; die Schüler werden es vertragen, denn die rhythmische Intensität befriedigt ihren Lernwillen. Es ist von Bedeutung, dass jeder Schüler an jedem Schultag das Erlebnis mit nach Hause trägt, er habe viel gelernt. Darauf kommt es im Hauptunterricht an.

 

Zum Erzählen

Es kann ein Segen sein im Leben einer Klassengemeinschaft, wenn in der letzten Viertelstunde des Hauptunterrichtes weiter erzählt wird, was eher begonnen wurde. Wann ist es ein Segen?

Wenn die Schüler die un- oder halbbewusste Empfindung haben, sie hätten so viel gearbeitet, dass es noch gerade reicht zur Geschichte. Wenn davor zu wenig getan worden ist, erlebt der Schüler meist unbewusst (aber dieses Unbewusste drückt sich in Unruhe aus): 'wir haben gerade begonnen etwas zu lernen und schon ist es wieder vorbei'. Die Geschichte wirkt dann störend. Hier haben wir ein Beispiel von einem Zeitrhythmus. Jede Aktivität braucht seine Zeit.

Was ist die richtige Zeit für den Erzählstoff? Was ist der richtige Moment, der Kairos für das Erzählen? Die Erzählung am Ende des Hauptunterrichtes ist kein Gesichtspunkt, sondern ist starre Regel geworden. Die Erzählung muss in den Tagesverlauf passen. Hat der Klassenlehrer vielleicht am Ende des Schultages noch eine Stunde in seiner Klasse, ist diese ideal für die Erzählung. Es ist herrlich, den Schultag mit der Erzählung zu beschliessen.

Muss die Erzählung stattfinden am Tag des Religionsunterrichtes? Wie viel Erzählungen und Geschichten 'verträgt' man an einem Tag, in einer Woche? Die Handarbeitslehrerin liest vor, da die Kinder so fleissig sind, an dem Tag ist auch die Religionsstunde und der Vertretungslehrer hat aus der 'eisernen Reserve' noch eine Geschichte mitgebracht. Hat man sich im Kollegium einmal damit befasst wie viel Geschichten eine bestimmte Klasse im Laufe des Tages hört? Um das zu erfassen, kann man in der Konferenz abfragen wie zum Beispiel für die Klasse 5b der heutige Tag ausgesehen hat. Welche Stunden hatten sie, in welcher Stunde wurde eine Geschichte erzählt.

Neben dem Rhythmus der Stunden gibt es also auch einen Rhythmus des Tagesverlaufs, den man berücksichtigen muss. Konferenzgespräche hierzu sind hilfreich.

Was bedeutet ein zu viel an Erzählungen und Geschichten für einen Schüler? Alle intellektuellen Aktivitäten machen, dass das Ich des Schülers sich mit der Leiblichkeit verbindet. Das Ich 'setzt sich'. Alles Bildhafte im Unterricht macht, dass das Ich sich von der Leiblichkeit löst.

Das ist ein waldorfspezifischer Rhythmus, dafür Sorge tragen, dass das sich Verbinden und Lösen des Ich vom Leib im rechten Verhältnis zueinander stehen. Ist die erste Tätigkeit zu stark, wird das Ich Gefangener der Leiblichkeit. Dann diktieren die Bedürfnisse des Leibes das Leben. Ist die zweite Tätigkeit zu stark, wird die Leiblichkeit orientierungslos. Das Leben erschöpft sich in unerfüllten Wünschen nie realisierter Ideale.

Der Weg zu diesem Rhythmus ist das Unterrichten aus den hier dargestellten Lebensrhythmen. (10)

 

Beurteilung und Zeugnisse

Wie anfangs dargestellt, wird die Dreiteilung des Hauptunterrichtes auch aus der Aussenperspektive, von Forschern, als ein Formmerkmal der Waldorfmethode betrachtet, weil es sich überall so zeigt und in der Literatur, wie dargestellt, nirgends kritisch hinterfragt wird.

Diejenigen aber, die die Waldorfpädagogik aus der Aussenperspektive kritisch betrachten und erforschen, haben zu dieser Form (berechtigte) Fragen.

Hier berühren wir nun eine Grundfrage.

Sie soll so formuliert werden: Wenn die Waldorfbewegung sich selbst nicht kritisch über ihre Erziehungspraxis hinterfragt, wird die Wissenschaft es tun. Und sie tut es bereits. Es wäre allerdings besser, wenn diese kritische Dialogfähigkeit erst in der Schulbewegung selber geführt wird.

Ist das nicht der Fall, findet man folgende Darstellungen.

Aus der Aussenperspektive ist das Problem des Unsachgemässen eines rhythmischen Teiles als Bestandteil eines Zeugnisses so beschrieben: 'Bei der tagtäglichen Passage in den Hauptunterricht (gemeint ist der rhythmische Teil) scheint Max also die Anforderungen in einer Weise zu erfüllen, die ihn zumindest in diesem Anfangsritual vor dem Abbruch oder Ausschluss bewahrt. Thematisiert werden in dieser Sequenz (des Zeugnisses) nicht inhaltliche Bereiche wie eine Kompetenz im Lesen, Schreiben, Rechnen usw., sondern Verhaltensanforderungen, d.h. das Mittragen des Rituals, das Sich-Einfügen in die Klasse und die Loyalität gegenüber dem Lehrer. Da es in den Schreibempfehlungen zu Waldorfzeugnissen keinen Hinweis darauf gibt, dass der rhythmische Teil Gegenstand des Klassenlehrerberichts sein soll, dieser also nicht generell einen bewertungswürdigen Aspekt darstellt, muss im Falle Maxens davon ausgegangen werden, dass das Selbstverständliche hervorgehoben wird. Was bei den anderen Schülern vorausgesetzt würde, wäre für Max dann eine anforderungsreiche Aufgabe. Es wäre zu vermuten, dass seine expressive und überschwängliche Persönlichkeit zu Verhaltensproblemen in solchen ritualisierten kollektiven Handlungsformen neigt.'

Das ist die Beschreibung des Forschers, der den Lebenslauf des Schülers Max verfolgt. Er zitiert dann aus dem Zeugnis des Zweitklässlers den nächsten Satz: „Oft braucht er aber auch - zum Leidwesen des Lehrers - diese erste Viertelstunde, um Ruhe zu finden und dann gefasst im Arbeitsteil mitmachen zu können."

Man ist sich über die Leseart des letzten Satzes nicht ganz sicher. Ist gemeint, dass Max den rhythmischen Teil braucht, um zur Ruhe zu kommen oder dass er nach dem rhythmischen Teil eine Viertelstunde braucht, um zu sich selbst zu kommen, um dann den Arbeitsteil mitzumachen. (11)

Es ist natürlich wissenschaftlich fragwürdig, in einer solchen Forschung nicht auch den Lehrer zu Wort kommen zu lassen. Worauf aber hingewiesen werden soll, ist, dass aus einer solchen Textstelle hervorgeht wie sowohl die Aussensicht wie auch die Innensicht diese Einteilung des Hauptunterrichtes als Wesensmerkmal der Waldorfpädagogik auffasst.

Der Versuch ist unternommen worden, skizzenhaft Folgendes darzustellen: diese Dreiteilung gehört nicht zu den Wesensmerkmalen dieser Pädagogik. Im Gegenteil, sie kann eine Behinderung sein der Entfaltung eines atmenden, lehrend und lernenden Lehrer-Schülerverhältnisses.

 

Schlussbemerkung

Dieser Aufsatz wurde geschrieben als Beispiel für die Notwendigkeit, nach neunzig Jahren Waldorfpraxis diese gewordene Praxis zu hinterfragen. Nicht um ihr Abbruch zu tun, sondern um sie und uns zu erneuern.

Es ist meine durch Jahre geprüfte Überzeugung, dass die Quelle der Erneuerung in dem Verstehen dessen liegt, was ursprünglich gemeint war. Wenn diese Quelle in uns wieder zu sprudeln beginnt, werden wir zukunftsfähig. Die Möglichkeit entsteht dann, viele Umwege nicht machen zu müssen. Es muss nicht etwas ergriffen werden, weil es neu ist, was man später fallen lassen muss, weil es doch nicht brachte, was erhofft war. Ist zum Beispiel die Idee des 'beweglichen Klassenzimmers' evaluiert? Bringt es, was man sich davon erhoffte? Hat die Idee sich weiter entwickelt? Ist diese Arbeitsweise, die jetzt schon Jahre besteht, evaluiert worden?

Die Zeit aber schreitet fort. Wenn wir selber diese Erneuerung durch die Befragung unserer pädagogischen Gewohnheiten nicht machen, werden andere es tun oder tun es bereits. Man kann da hinweisen auf die Publikation von Professor Heiner Ullrich, 'Vom pädagogischen Bezug zum harmonischen Passungsverhältnisses', auf Gunther Grasshoffs 'Zwischen Familie und Klassenlehrer' und vielleicht auch auf Georg Breitenstein und Fritz Schützes ' Paradoxien in der Reform der Schule'.

Man kann bei all diesen Texten sagen was man will - eines ist und bleibt ein Versäumnis: nämlich dieses, dass wir sie nicht selber verfasst haben. Folglich ist es vonnöten, sich diesen Forschungen zu stellen.

Christof Wiechert

 

Veröffentlicht im
Rundbrief 38
der Pädagogischen Sektion am Goetheanum

 

Anmerkungen:

1 Loebell, P. (2000) Elemente des Waldorfschulunterrichts in Kleinau-Metzler, D. (Ed.) Die Zukunft der Waldorfschule. Perspektiven zwischen Tradition und neuen Wegen, Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag (S. 86).

2 Pädagogische Sektion der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum, Dornach, und der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen, Stuttgart. (Eds.) (1997), Zur Unterrichtsgestaltug im 1. bis 8. Schuljahr an Waldorf- / Rudolf Steiner Schulen, Dornach: Verlag am Goetheanum.

3 Sandkühler, B. (1999), Lernen Kinder mit den Kopf? Die Bedeutung von Bewegung und praktischem Tun in der Waldorfpädagogik, Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben (S. 42). Kniebe, G. (1996), Aus der Unterrichtspraxis an Waldorf- / Rudolf Steiner Schulen, Dornach: Verlag am Goetheanum (S. 20). Richter, T. (ed.) (2006), Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele - vom Lehrplan der Waldorfschule, 2nd Edn., Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben. Eller, H. (1998), Der Klassenlehrer an der Waldorfschule, Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben (S. 26). Brater, M., Hemmer-Schanze, C., Schmelzer, A., (2009) Interkulturelle Waldorfschule. Evaluation zur schulischen Integration von Migrantenkindern, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft (S. 84). Patzlaff, R., Sassmannshausen, et al. (2007) Developmental Signatures. Core Values and Practices in Waldorf Education for Children Age 3-9, Ghent, NY: AWSNA (S. 127)

4 Keller, U.L. (2008) Quereinsteiger: Wechsel von der Staatlichen Regelschule in die Waldorfschule, Wiesbaden: GWV VS Verlag für Sozialwissenschaft, S. 345

5 Richter, A. (2009) Schule mit Theaterprofil, in Schneider, W., (Ed.) Theater und Schule: ein Handbuch zur Kulturellen Bildung, Bielefeld: Transcript Verlag. S. 169

6 Steiner, R. (1991) Die Erziehungsfrage als soziale Frage, Dornach GA 296, 2. Vortrag S. 50

7 Bronson, P. and Merryman, A. (2009) Nurture Shock, New York, Twelve Hachette Book Group, S. 38-44

8 Steiner, R. (1987) Die Gesunde Entwicklung des Menschenwesens, Dornach, GA 303, 6. Vortrag.Steiner nennt diese unangebrachte, schädliche Machtausübung des Lehrers auf das Kind oder die Kinder, das 'vampirisieren' der Beziehung.

9 Steiner, R. (1992) Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, Stuttgart, GA 293, 11. Vortrag

10 Steiner, R (1993) Meditativ erarbeitete Menschenkunde, Dornach GA 302a, 4. Vortrag

11 Idel, T-S (2007) Waldorfschule und Schülerbiographie, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 85

12 Rupert, M / Badawia, T / Luckas, H (Hrsg) (2005) Ethos-Sinn-Wissenschaft Remscheid, S. 237- 262

13 Grasshoff, G. (2008) Zwischen Familie und Klassenlehrer, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften

14 Hölbich, D. / Grasshoff, G. (2008) in Paradoxien in der Reform der Schule, Breitenstein/Schütze (Hrsg.) S. 217-229, eine sehr lesenswerte Analyse der Klassenlehrertätigkeit. Es ist von Bedeutung sich auf solche Weise wahrnehmen zu lassen. Man wird in die Gelegenheit versetzt zu beurteilen was archetypische Intention ist und was die Praxis möglich macht (oder nicht.)

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