Waldorfkindergarten ist ja noch o.k., aber wenn die Kinder ....
Ein Beitrag von Mark Neuper (Vater von Anna, 1. Klasse der Rudolf Steiner Schule Hagen)
.... dann anfangen zu denken, schicken wir sie lieber zu einer richtigen Schule
Ihnen kommt die Überschrift komisch vor? Herzlich Willkommen in der bildungsstandardisierten Leistungsgesellschaft. Nächstes Jahr soll unsere Tochter zur Schule gehen. Der Umzug in das neue Haus ist geplant. Alles soll gut ineinander greifen: Suchen, Finden, Umziehen. Bevor wir uns auf eine Schule festlegen, soll alles fertig sein. Alles so optimal wie möglich. Organisation ist alles. Wir sind gut in der Zeit und treffen eine Vorauswahl in der näheren Umgebung. Natürlich ist die Waldorfschule für uns kein Thema. Viel zu weit weg. Und man weiß ja, was die Waldis so für Leute sind. Buchstaben tanzen und so! Sie kennen das. Will man DAS wirklich seinem Kind zumuten? Wäre mein Kind stark genug, die Hänseleien der anderen Kinder auszuhalten? Hätte unsere Tochter dann noch normale Freunde? Einige sagen es ganz unverblümt: „Waldorfkindergarten ist ja noch OK - Aber wenn die Kinder dann anfangen zu denken, schicken wir sie lieber zu einer richtigen Schule!" (Anm.: Der Satz stammt von einem Vater, dessen Kinder im Waldorfkindergarten waren.) Also konzentrieren wir uns auf Schulen in der Nähe. Nehmen eine relativ große Auswahl an Informationsveranstaltungen wahr. Die engere Auswahl lässt sich unserer Meinung nach grob in zwei Kategorien fassen. Erstens gibt es ambitionierte städtische Schulen. Und zweitens gibt es ebenfalls städtische Schulen, mit religiösem Schwerpunkt, so genannte Bekenntnisschulen. Drittens gibt es noch die Privaten, aber das wollen wir nicht. Und viertens ist noch wichtig, was für das Kind gut ist. Als ambitionierter Vater nehme ich also aktiv am Auswahlprozess teil. Ich gehe zu den Informationsveranstaltungen. Allesamt eher so leidlich. Ein ungutes Gefühl schwingt immer mit. Vielleicht ist das aber auch normal so.
Das Modell „Standardschule", ich meine damit die städtische öffentliche Schule stellt sich als sehr leistungsorientiert dar. Präsentiert sich von der allerbesten Seite. Klar. Man ist ja auch unter Druck. Legt man Maßstäbe, wie PISA und Co. zugrunde, verliert man sich als Schulleitung schnell in Kategorien von Leistung. Schubladen werden geöffnet und Kinder darin einsortiert. Standardisierte Bildung. Vergleichbar. Förderunterricht wird angeboten und „Jedem Kind sein Instrument". Und klar ist auch, dass man auf Fragen, wie mein Kind denn da hinein passt, mit Bemerkungen wie „die müssen das in dem Alter können!"
reagiert. Als Vater bin ich zunächst irritiert. Ich halte jedoch im Geiste dagegen, dass es sich um ausgebildete Spezialisten handelt, denen ich erst einmal vertrauen will. Die Experten im Gesundheitsamt haben das ja auch gesagt. (Anm. des Autors: Ich halte sie im Nachhinein aus-drücklich nicht für Experten!) Es gibt Voraussetzungen, die das Kind erfüllen muss. Genannt werden u.a. Ausdauer, Leistungsbereitschaft und eine hohes Maß an Selbstständigkeit. Die Schulleitung spricht von einem Pensum, das erfüllt werden muss(!). Um die Voraussetzungen zu ermitteln, werden vor einer größeren Gruppe von Lehrern u.a. Einzelgespräche geführt. Es wird folgendes geprüft: Verhalten, Zahlenverständnis, Motorik, Umweltbewusstsein, Aufgabenverständnis, Kommunikationsverhalten. Standortanalysen scheinen extrem wichtig zu sein.
Das Modell „Bekenntnisschule" kommt zwar ähnlich daher. Hier geht es aber zusätzlich darum, klarzustellen, dass man dafür Sorge trägt, das Kind den Regeln der Religion unterzuordnen(l). Nicht das Kind steht im Mittelpunkt, sondern die Eltern, die sich darauf verlassen können, dass das Kind (in einem Beispiel) ein „guter Katholik wird". Zu diesem Zweck laden sich Schulleitungen dieses Modells gerne Unterstützer aus Kirchenkreisen ein, oft höhere Vertreter. Auch hier bin ich sehr verunsichert, als regelrecht von der Kanzel „gepredigt" wird. Teilweise spüre ich an diesen Schulen ein hohes Maß an Intoleranz gegenüber Andersdenkenden. In einem Fall war man „froh, dass man per Schulkonferenz keine muslimischen Kinder aufnehmen braucht". Weitere Details möchte ich Ihnen ersparen. Bei einer Schule wird die Standortanalyse (des Kindes) z.B. Diagnose-Spiel (!) genannt.
Wir diskutieren in endlosen Gesprächen innerhalb der Familie Pros und Contras. Keine der Alternativen stellt uns wirklich zufrieden. Vielleicht stellen wir uns auch an oder sind zu kritisch. Dennoch entscheiden wir uns - im Nachhinein aus Bequemlichkeit - für eine städtische Grundschule in der Nähe. Obwohl wir auch glauben, dass der Leistungsdruck schon sehr hoch sein wird.
Einige Wochen später quält uns dann doch das Gewissen - nicht wegen der Wahl der Grundschule, sondern nur weil wir das Gefühl haben, dass es vielleicht doch falsch war, die Waldorfschule kategorisch auszuschließen. Wir setzen alle Hebel nochmal in Bewegung, um uns die Rudolf-Steiner-Schule wenigstens einmal anzuschauen. Gleiches Recht für alle (Schulen)! Im Grunde wollen wir aber nur unsere Vorurteile bestätigt haben. Ich gehe zur Informationsveranstaltung und hoffe abends sagen zu können, dass unsere Entscheidung für die städtische Grundschule richtig ist.
Sie ahnen schon was kommt. Als ich abends nach Hause komme, wartet meine Frau schon ganz gespannt auf das, was ich zu erzählen habe. „Ich muss Dir leider sagen, dass ganz und gar nichts klar ist. DIE Waldis haben eine erstklassige Visitenkarte abgegeben!" Ich erzähle von ganz vielen Details. Sie sollten, falls Sie unentschlossen sind, selbst zu diesen Veranstaltungen gehen. Glauben Sie mir, die Informationen, die Sie dort bekommen, sind über die Maßen interessant. Im ersten Teil wurden Verortung und Inhalte der Waldorfpädagogik sowie das Leben Rudolf Steiners selbst dargestellt - und versichert, dass es nicht darum geht, aus Kindern Anthroposophen zu machen. Das wird ja auch oft behauptet, recherchiert man mal auf eigene Faust. Im zweiten Teil wurde das Kind im Mittelpunkt einer sehr greifbaren Schilderung aller Möglichkeiten im Allgemeinen und sehr begreifbar das Lernen in verschiedenen Phasen beschrieben. Und konkret wurden durch eine Lehrerin der ersten Klasse verschiedene Unterrichtskonzepte erläutert. Ich wusste nach dieser Veranstaltung, dass ich genau das für mein Kind wollte. Im Anschluss an die Veranstaltung, einem Freitagabend, wurde am folgenden Samstag ein „Pädagogisches Wochenende" angeboten - was ich besonders ans Herz legen will. Hier wird live unterrichtet und jeder kann sich ein konkretes Bild vom Lernen an der Waldorfschule machen. Und wenn man sich darauf einlässt, wird man schnell feststellen: ganz schön anspruchsvoll! Sinnvoll auch! Der wichtigste Eindruck, der bei mir neben allen Konzepten und pädagogischen Feinheiten hängengeblieben ist, ist die Leidenschaft und das extrem hohe Engagement der Lehrer. Das ist wirklich beeindruckend.
Als ich diesen Artikel schreibe, sind wir längst umgezogen - wohnen meilenweit von der Waldorfschule entfernt. Meine Tochter ist bereits ein gutes Vierteljahr Schülerin der Rudolf-Steiner-Schule in Hagen. Sie geht gerne in die Schule und hat schon ganz viele Freunde. Ich kann sagen: die Schule tut ihr sehr gut. Vor allem aber tut die Schule uns allen gut. Ein Teilziel ist erreicht! Und interessanterweise sprechen mich ganz viele „normale" Eltern an und sind zumindest höchst interessiert am Thema Waldorfschule. Und weil Waldorfpapa dann doch etwas sehr Besonderes zu sein scheint, passt das auch viel besser zu mir;-).
Als lebenserfahrenem Vater fallen mir jedoch einige heutzutage als „Skills" bezeichnete Fähigkeiten auf, die ich als extrem wichtig einordne und an denen heute niemand mehr im Berufsleben vorbeikommt - die Stichworte dazu sind: Kommunikation und soziale Kompetenz. Das wird an Waldorfschulen offenkundig und in hohem Maße gefördert. Mal unter uns: Ich weiß nicht warum die Monatsfeiern so heißen. Aber das sind quasi Leistungsschauen im Abstand von ca. 3 Monaten. Zu den Monatsfeiern präsentieren die Klassen, die Schülerinnen und Schüler, Ergebnisse ihres Lernens, ihrer Arbeiten etc. Das machen die von der ersten Klasse an. Kommunikation und Präsentation geht so in Fleisch und Blut über. Und die haben überhaupt kein Problem damit, wenn die Aula mit mehr als 300 Leuten besetzt ist. Können Sie das? Erinnern Sie sich an das erste Referat in der Schule, nur vor der eigenen Klasse? Sensationell! Hätten die Monatsfeiern ein Bewertungssystem, würde ich ihnen 5 Sterne geben.
Genug der Lobhudelei! Es werden mir bestimmt in „unserer" Schullaufbahn noch Dinge auffallen, die besser werden müssen. Aber auch hier hat die Waldorfschule einen Vorteil gegenüber den anderen Schulen. Man darf (und sollte) als Eltern mitmachen. Es ist für jeden etwas dabei. Und ein Teil der Energie, die man in die Freizeitgestaltung der Kinder steckt, kann man sicherlich für den einen oder anderen Arbeitskreis der Schule abzwacken. Dann haben alle was davon. Und die Arbeit macht (auch) Spaß. Da sollten Sie mal drüber nachdenken. Eine Sache bleibt noch. Eurythmie. Da habe ich, offen gesagt, (noch) keinen Zugang zu. Ein Schüler sagte mir aber, es hilft ihm ungemein beim Schlagzeug spielen -für mich konkret genug und nur ein Beleg dafür, dass er einen praktischen Nutzen sieht und die Waldorfschule möglicherweise doch auch eine richtige Schule ist. Nämlich eine Schule, die anders ist. Die Individualität fördert. Und die eigenen Fähigkeiten unterstützt. Also vieles was das Regelschulsystem meint, wenn es nach Skandinavien schielt.
Entscheiden Sie selbst! In 13 Jahren wissen wir, ob unsere Entscheidung richtig war. Klingt nach einem Plan. Ist es auch. Ich habe ein gutes Gefühl.
Mark Neuper
(Vater von Anna, 1. Klasse der Rudolf Steiner Schule Hagen)