Pädagogische Miniaturen über die Wirkung von Bildern

Ein Beitrag von Christian Seitz

In einer meiner 5. Klassen verband einen Jungen und ein Mädchen eine schöne unbeschwerte Freundschaft. Nun begann im Verlauf des 6. Schuljahres die Entwicklung der Mädchen etwas schneller voranzuschreiten als die der Jungens und es gab nun unter den Kindern Getuschel um diese Freundschaft. Die Mädchen suchen in diesem Alter ja eher eine innige Beziehung zu einer Intim-Freundin, der sie alles anvertrauen können, während sich die Jungen eher in Gruppen zusammenschließen und es zeichnete sich ein Ende der Freundschaft ab. Und so stand der Junge bald etwas verloren zwischen den einzelnen Gruppierungen.

Meine Sorge war, dass der Junge, bei seinem Bemühen Zugang zu einer der Jungen-Gruppen zu finden, diese Freundschaft nun herabsetzen könnte. So unterhielt ich mich bei einer sich bietenden Gelegenheit mit ihm und flocht folgendes Bild in die Unterhaltung ein: „Wenn Jemand eine Leiter braucht, um eine gewisse Höhe zu erreichen, so darf er die Sprossen dieser Leiter beim Hinaufsteigen nicht hinter sich zertreten, denn er wird sie ganz bestimmt beim Herabsteigen wieder benötigen.“

Mir selbst war bei diesem Bild mehr als unwohl, es erschien mir einerseits allzu banal und andererseits zu undurchsichtig, um den gemeinten Inhalt verständlich machen zu können. Aber ich wollte in irgendeiner Weise doch eine Hilfe und Orientierung anbieten. Und so überließ ich denn das Weitere dem Schicksal. Es verlief alles recht harmonisch, es kam zu keinem Eklat und ich hatte die Situation wohl etwas zu dramatisch gesehen.

In der 8. Klasse meldete sich eines Tages der Eurythmie-Lehrer bei mir und bat mich den oben erwähnten Jungen in der kommenden Stunde zu beschäftigen, da er zur Zeit im Eurythmie-Unterricht nicht zu bändigen sei. Ich hatte eine Freistunde, die ich der Korrektur widmen wollte und überlegte, ob ich dem Jungen zunächst gehörig „den Kopf waschen“ und dann einen Text abschreiben lassen sollte.

Es war aber einer dieser schönen Frühlingstage, die die Welt nach den langen Wintertagen mit einem ersten Sonnenschein verwöhnen und die uns mit allen Widerwärtigkeiten der Welt versöhnen können. Und so beschloss ich mich zu einem Spaziergang mit dem Jungen. Da fiel mir die Bemerkung Rudolf Steiners ein, dass man in diesem Alter mit den Jungen über ihre Zukunftspläne sprechen solle, um sie für die Welt aufzuwecken. Das Gespräch bekam einen nachdenklichen Charakter, sodass wir schon mal eine Strecke des Weges schweigend zurücklegten. Es war ein angenehmes Nachsinnen über das jeweils Gesagte und von „Kopf waschen“ konnte keine Rede sein.

Im Verlauf der Unterhaltung kam die Rede auch auf die Klasse und die Mitschüler und ich fragte ihn, wie er sich denn mit dem oben erwähnten Mädchen verstehe. Er entgegnete, dass sie sich gut verstünden und dass er sich an das gehalten habe, was ich ihm damals gesagt habe. Ich blieb stehen und schaute ihn an. „Was ich Dir damals gesagt habe? Was habe ich Dir denn damals gesagt?“, fragte ich erstaunt nach. „Sie haben mir gesagt, dass man die Sprossen einer Leiter nicht kaputttreten darf, wenn man hinaufsteigt, weil man sie beim Herabsteigen wieder braucht.“

„So? Das habe ich gesagt? Das weiß ich gar nicht mehr“, entgegnete ich. Mir war das Bild tatsächlich entfallen und der damalige Zusammenhang nur noch vage in Erinnerung, aber in diesem Augenblick fiel mir die ganze Situation wieder ein und auch mein damaliges Unbehagen mit dem Bild und seiner Undurchsichtigkeit kam mir wieder in Erinnerung. Noch heute staune ich darüber, dass Bilder so tief in Kinderseelen einsinken können und dass diese Bilder bei aller Verworrenheit doch erkannt werden und die Seele zu führen vermögen.

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In einer anderen 6. Klasse hatte ich von heranwachsenden Jugendlichen aus einem indigenen Volk erzählt, die sich freiwillig allerlei Strapazen unterwarfen, um ihren Körper abzuhärten. Unter diesen Strapazen war auch ein kilometerlanger Lauf in glühender Sonne, bei dem sie als besondere Herausforderung einen Schluck Wasser in den Mund nahmen, den sie trotz sengender Sonne nicht schluckten, sondern bei ihrer Rückkehr ins Dorf wieder ausspuckten. Von derlei Selbstkasteiungen hatte in der Schule erzählt und diese längst nicht mehr im Bewusstsein, als wir gegen Ende des Schuljahres ins Schullandheim fuhren.

Einer der Schüler war ein tüchtiger Jogger und hatte die Sondererlaubnis erhalten, noch vor dem allgemeinen Aufstehen seine Runden drehen zu dürfen. Der Junge kam schon am ersten Morgen nach seinem Lauf zu mir und berichtete freudestrahlend: „Ich hab‘ es auch geschafft!“ Ich war bar jeder Erkenntnis und fragte nach: „Was hast Du auch geschafft?“ „Na das mit dem Wasser im Mund!“ Ich war noch immer bar jeder Erkenntnis, was sich in meinem Gesichtsausdruck gespiegelt haben musste, denn der Junge erklärte: „Sie haben doch mal von einem indigenen Volk erzählt, die mit Wasser im Mund kilometerweit laufen und es nicht schlucken. Das kann ich auch, ich hab‘ es heut‘ ausprobiert!“ Da dämmerte mir der Zusammenhang und ich staunte wie tief ein Bild in die Seele eines Kindes einsinken kann.
 

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