Die Dachlawine

Wie jeden Morgen ging Herr Friedmann zu Fuß zur Arbeit. Schon seit Tagen war die ganze Stadt verschneit und Herr Friedmann freute sich an der weißen Pracht. Wie schön sich seine Schuhsohlen in den neuen Schnee drückten. Herr Friedmann sog die herrlich frische Winterluft tief ein. Auf einmal bekam er einen leichten Schlag auf den Kopf und im nächsten Moment war er in eine Wolke aus lauter pulverigem Schnee eingehüllt. Unwillkürlich duckte er sich und trat ein paar Schritte zu Seite. Als er um sich schaute, bemerkte er, dass es etwas Schnee gewesen sein musste, der von einem der Häuserdächer auf ihn herabgefallen war. Er setzte die Mütze ab, klopfte sie aus und musste leise lachen über den Schrecken, den ihm der doch sonst so sanftmütige Schnee eingejagt hatte.

Auf seinem weiteren Weg traf er einen alten Freund. Sie grüßten sich, unterhielten sich kurz und Herr Friedmann erzählte von seinem Erlebnis im Schnee. Beim Mittagessen erzählte nun jener Mann seiner Frau. „Heute früh traf ich meinen alten Freund Friedmann. Ihm ist heute auf dem Weg zur Arbeit etwas Unglückliches passiert, denn über ihm ging eine Dachlawine zu Boden und traf ihn am Kopf!" -„Wie furchtbar!" erwiderte seine Frau und machte erschrockene Augen.

Als seine Frau nachmittags auf dem Markt ihre Einkäufe erledigte, erzählte sie einer Bekannten, die sie am Gemüsestand traf: „Stellen Sie sich nur vor, Herr Friedmann, ein alter Freund meines Mannes, wurde heute Morgen von einer Dachlawine getroffen, direkt am Kopf!" -„Am Kopf!", entsetzte sich die andere, „das muss weh getan haben! Wenn er nur nicht bleibende Schäden davonträgt..."

Auf dem Rückweg zu ihrem Haus, traf nun jene Bekannte ihre Nachbarin, die sich ebenfalls zum Einkaufen auf den Weg gemacht hatte. „Hören Sie", sagte die Frau, „passen Sie bloß auf, wenn Sie nun durch die Stadt gehen! Eine Bekannte erzählte mir soeben am Gemüsestand, dass ein alter Freund ihres Mannes namens Friedmann heute Morgen mit voller Wucht von einer Dachlawine auf den Kopf getroffen wurde. Womöglich trägt er bleibende Schäden davon!"

Die Nachbarin erbleichte, machte auf dem Absatz kehrt und beschloss, ihren Einkauf auf ein anderes Mal zu verschieben. Als ihr Mann des Abends hungrig nach Hause kam, gab es nur ein bescheidenes Abendessen. „Ich konnte nicht einkaufen gehen", erklärte ihm seine Frau, „nachdem mir unsere Nachbarin erzählt hatte, dass heute Morgen ein Mann namens Friedmann durch eine Dachlawine fast sein Leben verloren hätte!" Da vergaß er seine Enttäuschung über die magere Mahlzeit und war froh, dass seine Frau sich nicht in Lebensgefahr begeben hatte.

Als dieser Mann nun nach dem Abendessen zu seinem Stammtisch ins nahegelegene Wirtshaus ging, lief er, aus Furcht vor Dachlawinen, mitten auf der Straße. Seinen Freunden, die es sich schon beim Kartenspiel gemütlich gemacht hatten, erzählte er sogleich: „Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie ich heute hierhergelaufen bin. Mitten auf der Straße bin ich gegangen, um nicht von einer Dachlawine erschlagen zu werden, so wie es einem Mann namens Friedmann aus unserer Stadt heute Morgen widerfahren ist." Die Männer vergaßen ob dieser schrecklichen Neuigkeit ihr Spiel und jeder erzählte dem anderen, in was für gefährliche Situationen sie während des Winters schon geraten waren.

Es war spät, als sie sich schließlich trennten. Einer der Männer ging am Zeitungsgebäude vorbei, aus dessen Fenstern noch Licht schien. Trotz der späten Stunde würden die Redakteure für aufregende Neuigkeiten ein Ohr haben. „Heute Morgen ist ein Mann namens Friedmann mitten in der Innenstadt durch eine Dachlawine ums Leben gekommen", erzählte er den aufmerksamen Zeitungsmachern. „Es wäre sicherlich gut, dies zu veröffentlichen, um vor dieser Gefahr zu warnen."

Am nächsten Morgen erschien Herr Friedmann gut gelaunt nach einem herrlichen Schneespaziergang auf der Arbeit. Doch die Kollegen schauten ihn entgeistert an. „Sie sind sicherlich der Zwillingsbruder von Herrn Friedmann", sagte schließlich der Chef. „Aber nein", antwortete Herr Friedmann, „ich habe zwei Schwestern - warum fragen Sie?" „Ja, haben Sie es denn nicht in der Zeitung gelesen? Herr Friedmann wurde gestern von einer Dachlawine erschlagen und übermorgen soll die Beerdigung sein!" „Ach, Sie meinen das Häufchen Schnee, dass mir gestern auf die Mütze fiel?" sagte Herr Friedmann. Da mussten die Kollegen herzlich lachen. Aber einige kniffen Herrn Friedmann erst kräftig in den Arm, bevor sie glauben konnten, dass er wirklich vor ihnen stand.

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