Der Rabe mit dem Eiersalatbrötchen
Eine Ansprache aus der Freien Waldorfschule Leipzig
An einem schönen Sommertag im September flog ein Rabe zu einem Schulgebäude im Nordosten von Leipzig. Dort waren viele Menschen zugange, Schulanfänger gingen ein und aus und vor allem wurde eine große Menge an Essen verbraucht. Der Rabe ließ sich auf einem Baum im Birkenwäldchen nieder und betrachtete eine Weile das bunte Treiben. Dann, im rechten Augenblick, stürzte er zum Bistro nieder und entwendete ein dickes, saftiges Brötchen mit dem berühmten Eiersalat, wie er nur in diesem Hause verkauft wird. Mit dem Brötchen im Schnabel machte er sich auf und davon und flog in einen nahegelegenen Park. Dort ließ er sich auf einem Baum nieder, um die Beute ungestört vertilgen zu können.
In diesem Augenblick kam ein Fuchs des Weges. Als er den Eiersalat auf dem Brötchen im Schnabel des Raben in der Sonne funkeln und glitzern sah, lief ihm das Wasser im Munde zusammen und er überlegte, wie er den Raben dazu bringen könnte, das Brötchen loszulassen. Der Rabe wiederum ließ den Fuchs nicht aus den Augen und behielt misstrauisch seine Beute nur noch fester im Schnabel.
Schöner Rabe, begann der Fuchs. Weithin rühmt man Dein geschmeidiges Gefieder, die Kraft Deiner Flügelschläge und die Geschicklichkeit Deiner Flugkunst. Nicht einmal die großen Greifvögel unserer Gegend, nicht einmal all die Bussarde und Milane können es mit Dir aufnehmen. Unvergleichlich sind Deine Kraft und Deine Schönheit. Wenn nun noch Dein Gesang so außergewöhnlich sein sollte, wie all Deine anderen Eigenschaften, müsste man Dich glatt zum König der Tiere wählen.
Dem Raben schmeichelten die Worte des Fuchses, unwillkürlich sperrte er den Schnabel auf und ließ ein weithin vernehmliches „Krah, krah" ertönen. Dabei fiel ihm das leckere Eibrötchen aus dem Schnabel auf die Erde hinab. Der Fuchs lachte still in sich hinein, nahm die köstliche Beute und verschwand.
Meine liebe zweite Klasse, liebe Mädchen und Jungen,
das was ich eben erzählt habe, war eine Fabel. Ihr habt schon gemerkt, dass in Fabeln Tiere vorkommen, die sprechen können und die zum Teil listig und zum Teil einfältig sind. Manche sind stolz, manche sind hochmütig und andere wiederum liebevoll und hilfsbereit. Wir werden in diesem Schuljahr noch viele solcher Geschichten zu hören bekommen.
Darüber hinaus werden wir uns mit Heiligenlegenden beschäftigen. Und auch da kommen immer wieder Tiere vor. Es gab Heilige, die zu den Vögeln gepredigt haben, andere bändigten Löwen und wieder andere besiegten Drachen. In diesen Geschichten lernen wir, was einzelne Menschen an Großem vollbracht haben.
Wenn wir einige dieser Erzählungen aufschreiben, werden wir die kleinen Buchstaben kennen lernen. Und weitere neue Dinge kommen in diesem Schuljahr auf uns zu. Im Formenzeichnen versuchen wir uns laufend und zeichnend an Spiegelbildern und im Rechnen werden wir alle Zahlenreihen des kleinen Einmaleins lernen. Langweilig wird es nicht werden und ich hoffe, dass Ihr alle gut ausgeruht aus den Ferien gekommen seid, um nun mit Neugier und Freude das neue Schuljahr zu genießen. Ich freue mich sehr auf Euch!
Euer Marcus Erb-Szymanski