Die menschliche Hand (Hermann Poppelbaum)

Der Text stammt aus dem Buch „Mensch und Tier“ von Hermann Poppelbaum.

Auf dem Hintergrund des folgenden Textes wäre es für eine Oberstufenklasse eine reizvolle Aufgabe, mit Digitalkameras einen Zoo aufzusuchen, um von den verschiedensten Tieren in Nahaufnahme nur die vorderen Gliedmaßen zu fotografieren. Diese Bilder könnten anschließend bei einer entsprechenden Präsentation im Unterricht diskutiert werden.

 

„[Man] betrachte das viel gepriesene Wunder einer Menschenhand und halte sie im Geiste neben alle jene Bildungen, die bei den Tieren ihre Stelle einnehmen: die Pranke des Löwen, das Bein des Pferdes, den Grabfuß des Maulwurfs, den Kletterfuß des Faultieres, den Flügel des Vogels, die Flosse des Fisches.

Er befasse sich geduldig mit dieser Reihe wohlbekannter Gebilde, gehe mit dem Blicke von einem zum anderen über und kehre immer wieder zur Menschenhand zurück. Er versuche sich darüber klar zu werden, was alle diese Gliedmaßen, als leibliche Gebilde betrachtet, sind. Lässt er alle liebgewordenen Begriffe von Vollkommen und Unvollkommen beiseite, so muss er sich eingestehen, dass die Hand von allen Gliedmaßenformen am wenigsten leiblich zu ihren Aufgaben gerüstet ist. Man hat zwar hundertmal sagen hören, sie sei ein wunderbar vollkommenes »Werkzeug«, aber ihre körperliche Zurichtung steht weit hinter der einer Tierextremität zurück. Sie ist zwar unvergleichlich gegliederter und vielseitiger, feiner und beweglicher als Pranke, Flosse, Flügel, aber ein Instrument im Sinne dieser Tierorgane ist sie nicht! Ihr fehlt zur »Vollkommenheit« eines jeglichen unter diesen etwas. Ungeachtet dessen, dass in ihr unendliche Möglichkeiten des Gebrauchs liegen, ist sie, rein als zugerichtetes Werkzeug betrachtet, die unvollkommenste von allen. Und solange wir ihre nur körperliche Grundform ins Auge fassen, kann sie allein als der Ausgangspunkt für alle anderen Gebilde begriffen werden. Denn dazu eignet sich keins der übrigen. Die Flosse nicht, denn sie ist ganz Ruder; nicht der Pferdefuß, sein Gebrauch ist viel zu beschränkt; nicht der Flügel, er taugt nur für die Luft. Die Hand allein begreift sie alle in sich, - aber nicht weil sie über alle hinaus vervollkommnet wäre, sondern weil sie, im Gegenteil, hinter allen zurückbleibt. Ja, die Hand ist - leiblich gesehen - eine primitivere Bildung als alle Tierextremitäten, und will man sich diese aus einer Urbildung entwickelt denken, so müsste man wohl oder übel von etwas Handartigem ausgehen. Sie bewahrt sich vor extremen Ausbildungen, vor zügellosen Metamorphosen, die ihre Verwendbarkeit nur einschränken würden. Das Geheimnis ihrer Vielseitigkeit liegt in ihrem Stehenbleiben in der leiblichen Entwicklung. Sie wird Organ des menschlichen Geistes gerade durch das, was ihr körperlich mangelt.

Dieses ganz eigenartige Verhältnis wird anschaulich, wenn man nun - der Leser vollziehe auch diesen Schritt mit voller Aufmerksamkeit und Sorgfalt - alle jene künstlichen Instrumente hinzudenkt, die der Menschengeist ersann, um zu ersetzen, was der Hand nach den verschiedensten Richtungen hin fehlt. Der Mensch muss seine Hand gleichsam verlängern: durch das Ruder, um sie zur Flosse zu machen (das Ruder ist eine Fischflosse aus Holz); er muss den Stiefel anziehen, um gut laufen zu können (der Pferdehuf gab dem Stiefel das Vorbild; dieser ist ja auch oft - beschlagen), er schnallt sich das Steigeisen ans Bein, wenn er klettern muss (das Steigeisen ist die Sichelkralle des Faultiers, in Stahl nachgebildet), er braucht die Tragfläche, um fliegen zu können (die Tragdecke ist der erstarrte Vogelflügel). Prüft man die Tierextremitäten in dieser Weise durch, dann erst sieht man ein, was Ausrüstung des Leibes mit Instrumenten heißt; man entdeckt, wie die Tierorgane bedenklich jenen toten Mechanismen ähneln, die sich der Mensch erfindet und die um so vollkommener sein können, je begrenzter ihre Aufgabe ist. Die Hand ist allein zu unendlichen Verrichtungen geschickt, weil das Werkzeugliche an ihr weniger hervortritt als bei einer tierischen Gliedmaße. Ein Menschliches, die kulturschöpferische Fähigkeit der Hand, wird durch das Zurücktreten der leiblichen Gestaltung möglich. Ein zunächst widerstrebendes Ergebnis, aber eines, das in die Tiefe führt! Man hat sich nur viel zu sehr angewöhnt, das Niedere unentwickelt und das Höhere entwickelt zu denken, sonst fiele es ganz gewiss nicht so schwer, zu durchschauen, dass das Ursprünglichere die größeren Möglichkeiten in sich birgt, also in dieser Beziehung das Höhere sein kann. Gelingt es, im Geiste etwas wie ein Urbild einer Extremität festzuhalten, dann kann man nach Gefallen diese und jene Tiergliedmaße daraus werden lassen, indem man die vielseitige Anlage zugunsten irgendeiner Sonderausbildung opfert. Dann wird man auch gewahr, wie die Menschenhand diesem Urbilde am nächsten bleibt, die geringste Entwicklung von ihm weg bedeutet. […]

Sollte jemand hierin etwas Künstliches oder Gewaltsames argwöhnen, so braucht er nur jene »Urkunde« zu Rate zu ziehen, in der die Entwicklung eines Organes vor Augen geführt wird: die Keimesgeschichte. Denn diese sagt ein vernehmliches »Ja« zu obiger Darstellung. Betrachtet man Embryonen vom Menschen, vom Hunde, von der Fledermaus, von der Taube auf früher Stufe, so sieht man sogleich, wie handähnlich die Vordergliedmaße zunächst ist, und wie sich erst allmählich die künftige Extremität aus diesem handähnlichen Keime entfaltet: Die Pfote des Hundes, der Flügel der Taube entfernen sich in großen Schritten von der Handähnlichkeit, um schließlich Lauf- und Flugwerkzeuge zu werden. Nur die Hand des Menschenembryos bleibt bei den Grundproportionen der ursprünglichen Gliedmaßenanlage und hält sie derart fest, dass sie auch im ausgewachsenen Zustande noch stark an ihren Ursprung erinnert. Man sieht hier, dass ein eigenartiges Stehenbleiben der menschlichen Bildung die Signatur gibt, während die entsprechenden Tierorgane einer endgültigen Metamorphose zustreben. Sie rücken vom Zentrum des Handkeimes nach verschiedenen Richtungen hin auseinander, nehmen immer ausgesprochener die Merkmale ausgearbeiteter Werkzeuge an, um erst am Endpunkte der äußersten Eignung stehen zu bleiben und damit die Richtigkeit der oben durch reinen Vergleich gewonnenen strahlenförmigen Anordnung in einem Naturdokumente zu bezeugen.

Auch die paläontologische Urkunde bezeugt dasselbe. Jedes Lehrbuch enthält die berühmt gewordene »Ahnenreihe des Pferdes«, in welcher das allmähliche Werden des Beines der heutigen Gattung in den einzelnen Schichten des Tertiärs von der Natur selbst veranschaulicht wird. Das heutige Pferd besitzt als tragenden Laufknochen nur den dritten Strahl der fünfzehigen Anlage; es läuft gewissermaßen auf einem außerordentlich stark gewordenen Mittelfinger; die übrigen Strahlen haben sich rückgebildet, aber - wie die Ahnenkette zeigt - erst ganz allmählich. Und die Urform, von der man ausgeht (Eohippus) hat die fünf Strahlen noch voll entwickelt, aber nicht langgestreckt zu einem Laufe, sondern ausgesprochen kurz; das heißt ihre Extremität steht der menschlichen Hand noch sehr nahe, und die Entwicklung zur heutigen Stufe führte hinweg von dieser Ähnlichkeit. Dass die beliebte Abbildung in den Lehrbüchern diese Lehre gibt, wird nur gewöhnlich übersehen!

Es sprechen also alle drei Urkunden Haeckels, die vergleichendanatomische, die embryologische und die paläontologische, dafür, dass die Menschenhand das primitiv-gebliebene, die Tierextremitäten die fortentwickelten Organe sind. Jene hat sich die Universalität bewahrt, diese haben sie aufgegeben.

Hat man erst einmal den widerstrebenden Gedanken gefasst, dass ein Fortschritt in der Entwicklung mit einer leiblichen Einbuße erkauft werden kann, so bemerkt man auch sehr bald, dass dieses eigenartige Entwicklungsprinzip in viel größerer Breite wirksam ist, als man zunächst vermutete. Ganze Gebiete der menschlichen Leibesbildung, verglichen mit denen der höheren Tiere, beginnen in neues Licht zu treten.“

Ihr Kommentar