Das Denken beweglich machen

Ein Beitrag von Joachim Vögele (Freie Waldorfschule am Kräherwald, Stuttgart)

Im vierten Schuljahr gerät in der Waldorfschule die Welt der Zahlen ins Wanken, denn dann beginnt das Bruchrechnen. Das eherne Prinzip, dass eine größere Zahl auch eine größere Menge bedeutet, hängt mit einem Mal davon ab, wo sie steht - über oder unter dem Bruchstrich. So kann die Tausend auch etwas Klitzekleines sein. Zwar kennt jeder die Viertelstunde und den halben Liter, rasch sieht aber auch mancher Erwachsene sein Denken auf die Probe gestellt, wenn unterschiedliche Brüche verglichen, addiert oder geteilt werden sollen. Das Denken beweglich zu machen ist denn auch der wichtigste Grund, warum Rudolf Steiner das Bruchrechnen in der vierten Klasse ansiedelte, in einem Alter, in dem die Kinder die Welt mit anderen Augen zu sehen beginnen und ihre erwachten Denkfähigkeiten freudig erproben. Ums Denkenlernen ging es Rudolf Steiner beim Rechnen überhaupt.

Zunächst aber geht es darum, die Kinder anschaulich und mit vielen unterschiedlichen Materialien an das Wesen der Brüche heranzuführen. Würfel eigenen sich hier ausgezeichnet: Mit ihnen lässt sich zum Beispiel veranschaulichen, dass ein Teil einerseits für sich ein Ganzes und zugleich Teil eines Größeren - zum Beispiel ein Achtel - sein kann. Dass die Zahl unter dem Bruchstrich wächst, je kleiner die Teile werden, erleben die Kinder beim Zerteilen von selbst geformten Tonwürfeln: Aus vier Vierteln werden acht Achtel.

Kaum steht der Bruch auf dem Papier, verwandelt er sich aber in ein abstraktes Zeichen: 1/4. Man tut gut daran, die Verknüpfung der experimentellen Ebene mit der ikonischen intensiv zu üben, um die nächste Abstraktionsstufe - die Bruchregeln - gut vorzubereiten, will man nicht Gefahr laufen, dass die Kinder diese später nur mechanisch anwenden. So wird in dieser ersten Epoche ausgiebig geknetet, ausgeschnitten, gefaltet und geklebt - eine Freude vor allem auch für jene Kinder, die sich mit dem Rechnen nicht so leicht tun.

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