Fotografieren statt Knipsen

Ein Beitrag von Monica Schulz Puell (Freie Waldorfschule Magdeburg)

Kunstgeschichte zum Mitmachen

1. Fotografieren in der digitalen Gesellschaft

Fotografie ist allgegenwärtig – von spontanen Schnappschüssen mit dem Smartphone bis hin zu sorgfältig inszenierten Kunstwerken. In der digitalen Welt dominiert das schnelle Knipsen, doch welche Möglichkeiten bietet Fotografie, wenn sie bewusst eingesetzt wird? Genau darum geht es in diesem Projekt der Oberstufe.

Fast jeder besitzt heute eine Kamera, meist in Form eines Smartphones. Das schnelle Ablichten von Momenten ist zur Gewohnheit geworden, besonders im Kontext sozialer Medien. Oft entstehen dutzende Aufnahmen, aus denen anschließend die „beste“ Version nach subjektiven Kriterien ausgewählt und bearbeitet wird.Doch Fotografie ist weit mehr als das bloße Festhalten eines Augenblicks. In dieser Epoche lernen Schüler*innen, über die Funktion des Knipsens hinauszugehen und Bilder bewusst zu gestalten. Sie sollen fotografische Techniken beherrschen, Fehler gezielt einsetzen und Bildbearbeitungsprogramme sinnvoll nutzen. Durch verschiedene Projekte gewinnen sie einen neuen Blick durch das Objektiv und entwickeln ein Verständnis für Komposition, Licht und Inszenierung.

Caspar David Friedrich, „Der Wanderer über dem Nebelmeer“, 1818
 

2. Die Idee der künstlerischen Nachstellung

Ein zentrales Projekt ist die künstlerische Nachstellung berühmter Kunstwerke – eine Methode, die während der Pandemie einen neuen Aufschwung erlebte. Eine der bekanntesten Initiativen war die #museumschallenge des Getty Museums in Los Angeles, bei der Menschen weltweit mit Alltagsgegenständen ikonische Kunstwerke nachstellten. Viele Museen griffen diese Idee auf, und auch ich entdeckte die Aktion damals auf Instagram – kurz bevor ich Lehrerin wurde. Was mich zunächst als humorvolle und kreative Herausforderung begeisterte, entwickelte sich später zu einem festen Bestandteil meines Unterrichts.

August Macke, „Bildnis Franz Marc“, 1887-1914


3. Inspiration aus der Kunstgeschichte

Viele Künstler*innen arbeiten mit Nachahmung und fotografischer Inszenierung. Besonders inspirierend sind die Werke von Tom Hunter, Jeff Wall, Cindy Sherman, David LaChapelle und Dina Goldstein, die eindrucksvoll zeigen, wie Aneignung und Inszenierung zu eigenständigen, modernen Interpretationen führen können.Als ich die Fotografie - Epoche in der 11. Klasse übernahm, wurde dieses Projekt schnell ein fester Bestandteil meines Unterrichts. Die Schüler*innen setzen sich aktiv mit Bildkompositionen und gestalterischen Mitteln auseinander und können dabei entweder Kunstwerke aus dem Kunstunterricht oder eigene Favoriten wählen. Dank unseres Fundus an Requisiten und Kostümen können sie ihre Ideen kreativ umsetzen.

Jan Vermeer, Das Mädchen mit dem Perlenohrring, 1665


4. Vom Kunstwerk zum eigenen Foto

Dieses Projekt markiert den Auftakt zur praktischen Epoche der 11. Klasse. Es fordert die Schülerinnen heraus, Kunstwerke nicht nur nachzustellen, sondern deren gestalterische Prinzipien zu durchdringen und kreativ weiterzuentwickeln. In kleinen Gruppen übernehmen sie wechselnde Rollen – als Fotografin, Modell oder Assistenz, die Licht, Requisiten und Komposition unterstützt.Die Schüler*innen fertigen mindestens zwei Appropriationen an. Eine davon soll ein Werk aus der Romantik, dem Impressionismus oder dem Expressionismus aufgreifen – etwa von Caspar David Friedrich, Claude Monet oder Edvard Munch. Die zweite Nachstellung kann frei gewählt werden. Besonders beliebt sind ikonische Werke wie „La Gioconda“ von Leonardo da Vinci, „Der Schrei“ von Edvard Munch oder „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ von Vermeer. Auch surrealistische Werke, etwa von René Magritte oder Frida Kahlo, erfreuen sich großer Beliebtheit. Inspiration finden viele über den Hashtag #museumschallenge oder durch Bildbände aus dem Malraum.

Vincent van Gogh, “Spaziergang in Arles (Erinnerung an den Garten in Etten)“, 1888


5. Von der Idee zur Ausstellung

Die Schüler*innen analysieren die gestalterischen Merkmale des Originalwerks: Komposition, Lichtführung, Farbgebung und Perspektive. Anschließend suchen sie nach passenden Kostümen und Hintergründen – entweder aus dem Schulbestand oder durch kreative Improvisation mit Alltagsgegenständen. Manche planen ihre Inszenierungen im Voraus und bringen gezielt Requisiten von zu Hause mit. Beim Fotografieren achten sie auf Details wie Körperhaltung, Mimik und Bildaufbau.

Die digitale Bearbeitung ermöglicht Farbkorrekturen oder das Ergänzen fehlender Elemente wie Landschaften. Zudem bereiten die Schüler*innen ihre Werke für den Druck und die Ausstellung vor.Doch nicht alle setzen auf digitale Bearbeitung. Manche arbeiten vollständig analog, indem sie Kulissen gestalten oder Hintergründe mit Pinsel und Farbe selbst anfertigen. Gerade bei impressionistischen Werken kann diese Methode eine besonders authentische Wirkung erzielen.

Gustave Caillebotte, „Junger Mann am Fenster“, 1876
 

6. Anwendungen außerhalb der Fotografie - Epoche

Die Methode der Appropriation lässt sich auch in der Kunstgeschichtsepoche der 9. und 11. Klasse zur Bildbetrachtung einsetzen. Sie ermöglicht es den Schüler*innen, sich durch die Nachstellung von Kunstwerken intensiv mit deren Stilmerkmalen, Bildkompositionen und historischen Kontexten auseinanderzusetzen.Auch im Geschichtsunterricht bietet sich dieser Ansatz an. Die Nachstellung historischer Gemälde oder Fotografien – etwa aus der Französischen Revolution oder der Weimarer Republik – lässt Geschichte greifbar werden. Die Methode zeigt, dass Fotografie weit mehr ist als Dokumentation: Sie kann Kunst, Reflexion und Inszenierung zugleich sein.

Pablo Picasso, Manola, 1905
 

Bildquellen:

1. Caspar David Friedrich, „Der Wanderer über dem Nebelmeer“, 1818
Ueber-die-sammlung-19-jahrhundert-caspar-david-friedrich-wanderer-ueber-dem-nebelmeer - Der Wanderer über dem Nebelmeer – Wikipedia

2. August Macke, „Bildnis Franz Marc“, 1887-1914
Datei:August Macke 037.jpg – Wikipedia

3. Jan Vermeer, „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“, 1665
1665 Girl with a Pearl Earring - Das Mädchen mit dem Perlenohrring – Wikipedia

4. Vincent van Gogh, “Spaziergang in Arles (Erinnerung an den Garten in Etten)“, 1888
Datei:Women of Arles.JPG – Wikipedia

5. Gustave Caillebotte, „Junger Mann am Fenster“, 1876
Gustave_Caillebotte_-_Jeune_homme_à_sa_fenêtre_(B_32).jpg (2736×4000)

6. Pablo Picasso, Manola, 1905
Manola, 1905 - Pablo Picasso - WikiArt.org

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