Die erste Eisenbahn in Deutschland (ERZÄHLUNG)
Trotz allem ist Bayern den anderen deutschen Plänen zuvorgekommen. Die Kunde von der Eröffnung der ersten Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth ist zum Gesprächsstoff für ganz Deutschland geworden. Eine Probefahrt, die am Nachmittag des 21. November 1835 stattgefunden hat, hat die Zuverlässigkeit der Anlagen bewiesen.
Der 7. Dezember 1835 ist ein kühler Wintertag, graues Gewölk zieht niedrig über die spitzen Giebel Nürnbergs, die Kaiserburg liegt wie verschleiert im dunstigen Morgenlicht. Aus den Fenstern hängen die Fahnen in den bayrischen und fränkischen Farben. Eine unübersehbare Menschenmenge wogt um den girlandengeschmückten Bahnhof der »Ludwigsbahn«. Die Tribünen der Ehrengäste sind dicht besetzt. Die Herren des Direktoriums haben sich auf den Platz begeben, auf dem der erste Zug steht, und die Lokomotive faucht und dampft, Militär hält allzu Neugierige fern.
Auf der Maschine wartet in Frack, Zylinder und weißen Handschuhen der englische Lokomotivführer Wilson; sein Heizer Johann Georg Hyronimus schaufelt mit wichtiger Miene Kohlen aus dem Tender. Auch der Bahnsteigbeamte mit blauer Schirmmütze und roter Abfahrtsflagge ist bereit. Der Regierungspräsident von Franken, Ritter von Stichauer, der die Eröffnung im Namen der abwesenden Majestäten vornehmen wird, Mitglied der Kommission, unterhält sich mit Johannes Scharrer, dem Schöpfer und Vorkämpfer der Ludwigsbahngesellschaft. Der Präsident trägt Galauniform: gelbe Eskarpins, weiße Seidenstrümpfe und Schnallenschuhe, den goldbordierten, ordenbesetzten blauen Frack und den Zweispitz. Dazu den Degen.
Die übrigen Herren - Paul von Denis, der Erbauer der Bahn, Platner, der Direktor, Bürgermeister Binder von Nürnberg und Herr von Bäumen, der Bürgermeister von Fürth - sind in feierlichem Schwarz erschienen. Aktionäre und Honoratioren mit ihren Damen neigen sich auf den Tribünen, wenn einer der würdigen Amtsherren vorbeigeht. Man sieht die neuesten Moden, hermelinverbrämte, weitschwingende Röcke und Kiepenhüte mit kühnen Straußenfedern und Bandgarnituren.
Die Kosten
»Man kann Ihnen zu diesem Tage gratulieren, Direktor Scharrer«, sagt der Regierungspräsident liebenswürdig. »Es ist vornehmlich Ihr und Direktor Platners Verdienst, dass die Gesellschaft zustande gekommen ist.« »Es war bei Gott keine Kleinigkeit, die Viertelmillion Aktienkapital aufzubringen«, seufzt Direktor Platner, der Kammerabgeordneter und Kaufmann ist. »Aber Exzellenz mögen glauben, dass die Hauptsorgen jetzt erst beginnen!«
»Sie haben den Aktionären 12,5 Prozent Dividende in Aussicht gestellt«, sagt Bürgermeister Binder scherzend. »Vergessen Sie nicht, dass auch ich Aktionär bin und nicht ungern Coupons schneide.« Platner wehrt ab. »Diese Kosten, meine Herren! Sehen Sie den Dampfwagen dort, der mit roten Rädern, blitzendem Messing und grünem Rumpf, bunt wie ein Pfau dasteht - er hat uns 850 Pfund Sterling gekostet, das sind rund 17.000 Gulden, vom Transport ganz zu schweigen. Von England herüber ist es ein weiter Weg, die Herren Engländer wissen, was sie fordern können. Den Wagenlenker Wilson haben sie uns gegen 1.500 Gulden Jahresgehalt geliehen - und 300 mehr, als der Erste Direktor verdient.«
»Immerhin, lieber Plamer«, ermuntert Regierungspräsident von Stichauer, »ein Anfang ist gemacht, und wir hoffen, dass Scharrers Voraussage in Erfüllung geht und bald aus der Ludwigsbahn ein bayrisches Eisenbahnnetz wird.«
Scharrer zieht zweifelnd die Schultern. »Sieht vorläufig recht übel damit aus, Exzellenz. Alle Verhandlungen, die auf die Durchquerung größerer Länderstrecken abzielen, stoßen immer wieder auf ein Gestrüpp von Privilegien, politischen Einwendungen und privaten Interessen. Die Thurn, und- Taxissche Postverwaltung besteht auf ihrem Privileg aus der Zeit Karls V., das ihr ein Verkehrsmonopol gibt, und sträubt sich gegen die Eisenbahn. Die Wiener Hofburg unterstützt diese Haltung. Habe erst vor einigen Tagen Einblick in eine Geheimverfügung der kaiserlichen Kanzlei nehmen können, die viel zu denken gibt:
Spurweite
Die Herren geraten in eine juristische Debatte über die Schwierigkeiten des Grunderwerbs, die Ablösung der Postlinien und die Passschwierigkeiten des Reiseverkehrs zwischen den deutschen Ländern. Bürgermeister von Bäumen hat unterdessen den Bahnbauer Paul von Denis in ein Gespräch gezogen. Die technischen Daten der Bahn interessieren ihn. Seltsam ist vor allem das Maß von 1435 Millimeter für die Spurweite der Gleise. Warum man gerade diese Weite gewählt habe, fragt er. Herr von Denis weiß nur zu erwidern, dass das die Spur der aus England bezogenen Lokomotive sei. »Fragen wir Mr. Wilson!«
Der Lokomotivführer spricht kein Wort Deutsch; da Denis längere Zeit in England gelebt hat, macht er den Dolmetscher. »Das kann ich Ihnen erklären, Sir«, sagt Mr. Wilson, als er die Frage begriffen hat. »Die Spurweite geht auf den Erfinder der Eisenbahn und den Erbauer der ersten Linie Darlington-Stockton, George Stephenson, zurück. Als er seine erste Bahn baute, schrieb ihm die englische Behörde die Spur der Postkutsche vor - es waren genau fünf Fuß. Das gab Konstruktionsschwierigkeiten bei der Unterbringung der beiden Zylinder innerhalb der Räder, und so erhielt er endlich die Erlaubnis, die Spur um 8 1/2 Zoll zu erweitern. Nach Ihrem Maß sind 5 Fuß 8 1/2 Zoll genau 1435 Millimeter.«
Lokomotivenrauch mache Felder unfruchtbar
Ringsum rauscht das bunte Treiben des festlichen Volkes. Die Blicke wandern immer wieder von den Ehrengästen zu dem fahrbereiten Dampfross und der Wagenreihe hinüber. Die rauchende, ein wenig unheimlich aussehende Lokomotive, die nach Art der Postkutschen gebauten offenen und geschlossenen Coupes in frisch lackiertem Gelb: das alles ist ein sehr ergiebiges Gesprächsthema.
»Wenn das so weitergeht«, meint ein würdiger alter Herr, »so ist der Weltuntergang nicht mehr ferne. Ich habe mit Fachleuten gesprochen, die ganz entschieden die Meinung vertraten, durch den Lokomotivenrauch würden die umliegenden Felder unfruchtbar, die Hühner könnten vor Schreck keine Eier mehr legen und die Pferde und Rinder müssten tobsüchtig werden.«
»Lieber Herr«, mischt sich eine Nachbarin ein, »nicht nur das liebe Vieh! Die Menschen werden verrückt, die da mitfahren. Ich tät mich zu Tode fürchten, mit so etwas zu kutschieren!« »Da haben Sie recht!« ruft ein kleiner Schreiber. »Das Bayrische Medizinalkollegium hat ein Gutachten erlassen, dass der Luftzug bei der hohen Geschwindigkeit von dreißig Stundenkilometern die Fahrgäste ersticken lässt. Übrigens wird die Reibung der Räder alles in Brand setzen. Aus Sicherheitsgründen sollte man Bretterzäune rechts und links der Bahn aufrichten.«
»Torheit!« lacht ein gutgekleideter Herr. »Niemals hat das Bayrische Medizinalkollegium so einen Unsinn attestiert 190. All diese Bedenken sind Erfindungen der Fuhrleute und Kutschenverleiher, die sich vor der Konkurrenz fürchten. Auch in Sachsen bauen sie eine Bahn von Leipzig nach Dresden und in Berlin eine nach Stettin. Im Rheinland ist ebenfalls eine Eisenbahngesellschaft gegründet worden ... «
»Lauter preußische Einführungen, genau wie dieser Zollverein, der uns den ausländischen Handel als Konkurrenz auf den Hals geladen hat.«
»Hören Sie, Herr Nachbar!« wendet sich ein Student, der sein schwarzrotgoldenes Burschenband offen auf der Weste trägt, an den dicken Krämer, der sich also vernehmen lässt. »Sie wollen doch nicht im Ernst die Deutschen jenseits der bayrischen Grenzpfähle als Ausländer betrachten?« »Ich schon, wenn es ums Geschäft geht.«
Doch ehe es zum Streit kommen kann, lenkt der Festplatz alle Augen auf sich. Der örtliche Gesangverein intoniert einen feierlichen Chor. Regierungspräsident von Stichauer hebt die Hand - für die Ehrengäste das Zeichen zum Einsteigen. In Reisekleidung. Mit Proviant, Taschen und Schirmen besteigen die Herren und Damen unter lautem Hallo die eisernen Kutschen zur ersten Fahrt.
Die Presse
Eifrig machen die Zeitungskorrespondenten Notizen. Aus aller Welt sind die Journalisten vertreten. Der Berichterstatter des »Stuttgarter Morgenblattes« beschreibt in seiner Zeitung die Lokomotive und die Abfahrt. Der Bericht erscheint an einem der nächsten Tage.
»Auf den Achsen von Vorder- und Hinterrädern wie ein anderer Wagen ruhend, hat sie mitten zwischen diesen zwei größere Räder, und diese sind es, welche von der Maschine eigentlich in Bewegung gesetzt werden. Wie - lässt sich zwar ahnen, nicht aber sehen. Zwischen den Vorderrädern erhebt sich, wie aus einem geschlossenen Rauchfang, eine Säule von ungefähr 15 Fuß Höhe, aus welcher sich der Dampf entladet. Zwischen den Vorder- und Hinterrädern erstreckt sich ein gewaltiger Zylinder nach den Hinterrädern, worin sich der Herd und der Dampfkessel befinden, welche von einem zweiten, angehängten, vierrädrigen Wagen aus mit Wasser gespeist werden ...
Der Wagenlenker lässt nach und nach die Kraft des Dampfes in Wirksamkeit treten. Aus dem Schlot fahren nun die Dampfwolken in gewaltigen Stößen, die sich mit dem schnaubenden Ausatmen eines riesenhaften ... Stiers vergleichen lassen. Die Wagen sind dicht aneinandergekettet und fangen an, sich langsam zu bewegen; bald aber wiederholen sich die Ausatmungen des Schlotes rascher, und die Wagen rollen dahin, dass sie in wenigen Augenblicken den Augen der Nachblickenden entschwunden sind. Auch die Dampfwolke, welche lange noch den Weg bezeichnet, sinkt immer tiefer, bis sie auf dem Boden zu ruhen scheint.«
Finanzieller Erfolg - weitere Entwicklung
Die Ludwigsbahn ist trotz ihrer nur örtlichen Bedeutung ein ganz großes Geschäft, die Aktionäre fahren nicht schlecht. Die Tageseinnahmen der ersten Woche betragen im Durchschnitt 200 Gulden. Schon im ersten Jahr befördert die Bahn eine halbe Million Fahrgäste, die Dividende beträgt 20 Prozent. Der Bann scheint gebrochen, in ganz Deutschland, auf dem gesamten Kontinent beginnt das Bauen und Planen neuer Bahnen.
»Am 24. April 1837 kann die erste Teilstrecke der ersten deutschen Fernbahn Leipzig-Althen (Teilstrecke der Leipzig-Dresdener Bahn) dem Betrieb übergeben werden. Am 23. November 1837 wird die erste Dampfeisenbahn in Österreich, die Strecke Floridsdorf-Wien, eingeweiht. Ein Jahr später, am 29. Oktober 1838, wird die erste preußische Bahn von Berlin nach Potsdam eröffnet, am 1. Dezember 1838 die erste deutsche Staatseisenbahn, die Strecke Braunschweig-Wolfenbüttel, am 20. Dezember in Westdeutschland die Strecke Düsseldorf-Erkrath. Wieder ein Jahr später, am 7. April 1839, ist die ganze Bahn von Leipzig nach Dresden fertig, und von Magdeburg tastet man schon südlich nach Halle und Leipzig, von Köln westwärts nach Aachen, von Frankfurt an den Rhein nach Wiesbaden und von München nach Augsburg 192.«
Schwierigkeiten der Länderbürokratie
Freilich stemmt sich die Länderbürokratie gegen die über ihre Ländergrenzen hinwegstrebenden Pläne des technischen Fortschritts. Den Kabinetten kommt die Entwicklung zu rasch und zu unerwartet, kaum ist es möglich, dem Tempo der Eisenbahnen Zu folgen. Passkontrollen verlängern die Fahrzeiten. Wer etwa von Wien nach Brünn fahren will, braucht zweierlei Pässe: den »Linienpass« beim Überschreiten der Wiener »Verzehrsteuerlinie« und den »Reisepass« zum Weiterfahren. Auf der Strecke von Leipzig nach Dresden ist es nicht einfacher. Eine hochlöbliche Behörde erlässt nachfolgende Anordnung:
»Jeder Reisende muss vor Entnahme des Billetts sich gegen die eigens zu diesem Zweck angestellten Polizeioffizianten über seine Person ausweisen, nach Befinden auch seine Legitimation abgeben, die er dann erst von der Polizeibehörde der Ankunftsstation wiedererhält ... «
Und doch überwindet die eiserne Straße alle Schwierigkeiten, die ihr von Menschentorheit oder Naturgewalten in den Weg gelegt werden. Selbst Berge hemmen das Vorwärtsdrängen der Bahn nicht. Als die Strecke Leipzig-Dresden gebaut wird, brechen Freiberger Kumpels den Tunnel bei Oberau und führen die eisernen Straßen mitten durch den Fels. Das ist eine neue, unerhörte Sensation.
»In dem gefürchteten Tunnel pflegen die Damen reiferen Alters eine Stecknadel zwischen die Lippen zu nehmen, um sich gegen die Liebkosungen ausschweifender Jünglinge zu sichern. Vorsichtige Ärzte wollen von Tunnelfahrten, die fast eine Minute währen, überhaupt nichts hören; sie befürchten, bei dem plötzlichen Luftwechsel müsse ältliche Leute der Schlag rühren ... «
Die Tatsachen überrollen alle Einwände. Während noch im Jahre 1828 in den Dresdener Gasthöfen nur 7.000 Personen nächtigen, sind es 1839 bereits 36.000; im ersten Jahr der Bahn gelangen 3,85 Millionen Zentner Waren auf den Leipziger Markt.
»Ungeheuer ist der Aufschwung. Die Eisenverzehrung des ZoIIvereins steigt in den Jahren 1834 bis 1841 von 10,6 auf 18,1 Pfund je Kopf der Bevölkerung; an Schienen, Roh-, Stab- und Schmiedeeisen werden im Jahre 1834 erst 367.000 Zentner eingeführt, 1840 schon 1.203 Millionen; denn leider werden die Schienen noch aus dem Ausland (England) bezogen.«
Friedrich List
Friedrich List, der am meisten für den Durchbruch zur Wirtschaftseinheit und für den länderverbindenden Bahnbau gekämpft und geopfert hat, ist nicht unter den Ehrengästen von Nürnberg oder Leipzig vertreten gewesen. Niemand hat seiner gedacht, Deutschland hat ihn vergessen.
Als Österreich sein »Eisenbahn-Journal« verbietet, von dessen bescheidenen Erträgnissen List nach dem Verlust seines amerikanischen Vermögens recht und schlecht zu leben verstand, wendet er abermals dem Vaterland den Rücken, geht nach Paris und betreibt die Vorstudien zu einem größeren Werk: »Das nationale System der politischen Ökonomie«. Veröffentlichungen in Zeitschriften machen ihn bald auch in Frankreich bekannt. Adolphe Thiers, der neue Ministerpräsident, wird auf ihn aufmerksam gemacht.
Die französische Regierung bietet ihm unter günstigen Bedingungen einen Posten als Bahnbauer in staatlichen Diensten. Da er aber erkennt, dass hier die eisernen Straßen nicht nur für Wirtschaftszwecke, sondern aus strategischen Erwägungen mit deutlicher Richtung gegen das gefährlich emporstrebende Preußen geplant werden, siegt in ihm die Liebe zur Heimat, trotz allem, was sie ihm angetan hat. Er schlägt das französische Angebot aus und kehrt nach Deutschland zurück.