Wie das ägyptische Volk dachte

Aus: Die Kultur der Empfindungsseele Ägypten von Frank Teichmann

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Frank Teichmann beschreibt in dem folgenden Abschnitt die Bewusstseinssituation des altägyptischen Volkes, welche ganz anders war als die des Pharaos. Sein Buch enthält zahlreiche ägyptische Texte, von denen er seine Ansicht ableitet.
 

… Der Letztere hat ein Bewusstsein, welches sich ganz anders darlebt als das unsrige. Es reagiert in vorgeprägter und eingelernter Weise auf konkrete Reize der Sinneswelt. Alles, was er tut und erlebt, wird durch diesen Vorgang hervorgelockt, und alles, was in der ägyptischen Kultur gestaltet worden ist, beruht auf diesem Vorgang. So ist es dann auch nicht verwun­derlich, dass die Konsequenzen, die aus der Einsicht in diesen Prozess folgen, zu Gesichtspunkten führen, unter denen man die ägyptische Kultur wie mit neuen Augen ansehen kann.

Zwei Elemente sind bisher deutlich geworden: der sinnliche Reiz und die gelernte Antwort, und zwar in dieser Reihenfol­ge. Ohne einen äußeren Eindruck würde im Seelenleben des Ägypters keine Empfindung auftauchen, oder umgekehrt: Alle Empfindungen, die ein Ägypter haben kann, werden immer nur durch einen sinnlichen Anlass hervorgelockt. Wer diesen Grund­vorgang verstanden hat, wird es nicht mehr absonderlich finden, wenn alle Inhalte, die einem in der ägyptischen Kultur begegnen können, eine äußere Seite haben müssen: Der Gott muss z.B. als Bild oder Statue erscheinen, wenn man ihn erkennen soll, auch der Gottesdienst verlangt die sinnliche Form, ebenso der Totendienst, die Festabläufe usw. Und das nicht deswegen, weil man den Gott oder den Toten als sinnliche Gestalt dächte, son­dern deswegen, weil sich die entsprechende Empfindung nicht ohne entsprechenden Eindruck aufrufen ließe. Erst wenn auch irgendein äußerer Vorgang abläuft, folgt das Bewusstsein dem vorgeschriebenen Inhalt. Es ist also notwendig, dem Toten Brote zu backen und Gaben zu opfern, damit man an ihn denkt, denn ohne äußeren Anlass würde man ihn vergessen. Auch heute noch wird man an sich selbst beobachten, wie z.B. durch regelmäßige Grabpflege immer wieder die Gelegenheit herbeigeführt wird, an den Verstorbenen zu denken. Wenn, wie in der ägyptischen Kultur, das Weiterleben nach dem Tode noch selbstverständlich gewusst wurde, dann sind auch Sitten und Einrichtungen zu er­warten, die dieses innere Leben äußerlich begleiten. Im Alltag, an Festen und an ganz besonderen Tagen im Jahr sind Opfer zu geben, Gebete zu verrichten, Gräber zu besuchen, kurz, es ist all das zu erfüllen, was seit alters an Sitten eingeübt worden ist. Alles dies war streng geregelt, durch Gebote geschützt und durch lange Tradition geheiligt, und niemand wäre jemals auf die Idee

gekommen, irgendetwas daran zu ändern. Man hatte gelernt, wie man sich in den verschiedensten Situationen zu verhalten hatte, was man sagen sollte und wo man schweigen musste. Dem Gebil­deten, der viel gelernt hatte, war die Welt bekannt, jedes Zeichen wusste er zu deuten …

 

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