Der Pharao als Inaugurator

Aus: Die Kultur der Empfindungsseele Ägypten von Frank Teichmann

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… Es ist eine eigentümliche Stimmung um eine Kultur, wenn man ihre Gaben als von Göttern stammend empfindet. Für die Ägyp­ter war dieses Erlebnis ganz konkret, denn sie wussten, dass in der Vorzeit die Götter noch unter Menschen weilten und herrschten; spät erst zogen sie sich zurück, und von da an handelten Könige an ihrer statt. Aber das waren weise Könige, göttliche Menschen. Sie reichten noch hinauf mit ihrem Bewusstsein in göttliche Regionen und fanden dort die Schöpferkraft, die irdische Welt als ein Abbild der himmlischen zu gestalten.

Einer dieser ganz Großen, der zu Beginn der ägyptischen Geschichte an dieser Grenze lebte, war König Menes. Ihm schrieben die Ägypter später all die Leistungen zu, die den Sprung in die Hochkultur einleiteten. Die Erfindung der Schrift und des Kalenders, die Organisation des Staates und der Aufbau einer effektiven Ver­waltung, die Verehrung einer einheitlichen Götterwelt sowie die Schaffung eines Kunst-Kanons, die Aufprägung neuer sozialer Verhaltensweisen und die Belehrung der Handwerker - alles dies wurde neu gestaltet und eingeübt. Und das sollte das Werk eines einzigen Menschen sein?

Wir sind heute geneigt, einen gewis­sen Entwicklungsprozess anzunehmen, wenn auch nur von der Dauer weniger Generationen. Unzweifelhaft ist jedoch, dass die Zeit der Entwicklung bis zur Ausformung der ägyptischen Kul­tur unglaublich kurz war. «So geht man am besten davon aus, dass die Geburt der ägyptischen Hochkultur das Ergebnis einer geistigen, nicht einer technischen Revolution ist», schreibt Erik Hornung. Und er hat recht. Dergleichen Häufungen von Er­findungen und Neuerungen sind gar nicht anders zu denken als durch den Einschlag eines geistigen Impulses von großer innerer Überzeugungskraft. Alle kleinlichen Vorstellungen aus heutiger Zeit würden doch jämmerlich scheitern.

Stelle man sich doch einmal probeweise einen brain-trust vor, der die Aufgabe bekä­me, alles neu zu machen, und male sich die Konsequenzen aus, wenn er sein «Szenario» dann umsetzen wollte. Zuweilen hilft ein solcher Gedanke, um sich die ungeheuer großartige Leistung, die an dieser Wende der Menschheitsgeschichte «erbracht» wurde, ins richtige Licht zu rücken. Wahrlich, da mussten Götter und göttliche Menschen tätig sein.

Wenn ein Impuls einer geistigen Revolution entsprungen sein soll, so schließt dieser Gedanke ein, dass es Menschen gegeben haben muss, die ihn ergreifen konnten. Wohl bleiben die schöp­ferischen Persönlichkeiten der Reichseinigungszeit im Dunkel, denn unter dem einen Namen Menes könnten mehrere Könige verborgen sein, die später nicht mehr voneinander zu scheiden waren, doch auch in geschichtlicher Zeit ist immer wieder zu be­obachten, dass sich solche Vorgänge ganz real mit ganz bestimm­ten und auch allseits bekannten Personen wiederholen.

Eine solche Gestalt ist z.B. Imhotep. Von ihm wissen wir defi­nitiv, dass er zur Zeit des Königs Djoser (um 2.750 v.Chr.) gelebt hat, denn sein Name und seine Titel erscheinen auf einer Sta­tuenbasis dieses Königs. Er muss eine überragende Persönlich­keit gewesen sein: Als Oberbaumeister, der verantwortlich war für die Errichtung der ersten Pyramidenanlage, der Stufenpyra­mide von Sakkara, wird er später als derjenige genannt, «der den Steinbau eröffnete». Zwar gab es vorher schon dann und wann einen verbauten Stein, einen Türpfosten und sogar einmal eine mit Steinen verkleidete Wand in einem Grab, aber ein wirkliches Gebäude aus Steinen ist erst unter seiner Führung entstanden. Und dieses war nicht etwa klein, um vielleicht die neu zu entwickelnde Technik ausprobieren zu können, nein, rie­senhafte Dimensionen einschließlich der gleich sechzig Meter hohen Pyramide zeugen von der Kraft, die in diesem Bauimpuls lebte. Obwohl diese Leistung genügt hätte, Imhotep als einen herausragenden Menschen anzuerkennen, so war er darüber hin­aus auch auf anderen Feldern ebenso produktiv. Er wird z.B. als einer der Ersten genannt, die eine Lebenslehre verfasst haben. Zwar ist diese selbst nicht erhalten geblieben, doch bezeugt wor­den ist sie oft. Noch in der Ramessidenzeit zeigt ihn ein Grab­relief, das berühmte Autoren der Vergangenheit abbildet. Im zweiten Jahrtausend gilt Imhotep überhaupt als «Klassiker» der ägyptischen Literatur und wird als solcher von allen Schreibern hoch verehrt.

Seine größte Wirksamkeit entfaltete Imhotep jedoch auf dem Gebiete der Medizin. Hier scheint er Vortreffliches und Vorbild­haftes geleistet zu haben, denn die Ärzte fühlten sich in seiner Nachfolge, ihm verdankten sie ihr Wissen, und an ihn wandten sie sich, wenn sie eines Helfers bedurften. In der Spätzeit hat man ihn dann als Heilgott verehrt und ihm Tempel gebaut; auch die Griechen kannten ihn und setzten ihn ihrem Asklepios gleich. Er soll der Verfasser vieler medizinischer Texte gewesen sein, und vielleicht - das ist schon vermutet worden - ist er der Autor der oben genannten chirurgischen Anweisungen.

Es erstaunt uns nicht, wenn wir von einem solchen Geistesrie­sen weiterhin erfahren, dass er Hoherpriester des Sonnenheilig­tums von Heliopolis gewesen ist. Dadurch müssen ihm die in­timsten Geheimnisse des geistigen Lebens bekannt gewesen sein, wie sonst nur dem Pharao, und dementsprechend schöpferisch war seine Person. Hier ist es uns einmal in geschichtlicher Zeit vergönnt, einen Blick «hinter den Vorhang» der Weltgeschichte zu werfen. Hier können wir nicht ausweichen und eine jahrhun­dertelange Entwicklung vermuten. Hier kennen wir die Person, die Umstände, die Bedingungen und die Ergebnisse, die selbst als Ruinen noch heute von dem Ruck Kunde geben, der sich damals im Kulturleben ereignet hat. Es ist ein ähnlicher Ruck, im kleineren Maßstab, wie der, der sich zu Beginn der ägyptischen Geschichte unter Menes' Leitung ereignet hat - und für uns Heutige ebenso unerklärlich wie damals. Aber eines wird dem Betrachter doch deutlich: Dergleichen Ereignisse haben immer einen geistigen Urquell. Eberhard Otto hat gerade diesen Punkt hervorgehoben, wenn er das Entscheidende für die Entstehung der Hochkultur nicht mehr in den einzelnen Neuerungen sieht, sondern im Zusammentreffen aller Faktoren. «Damit wird meines Erachtens klärlich das Entscheidende von den Ereig­nissen, vom Geschehen weg verlagert in ein sich wandelndes Selbstbewusstsein ihrer Vollzieher.» …

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