Aeneas
Troja brennt
In Troja wütete der Krieg. Diese herrliche Stadt versank in Trümmern. Nur wenige konnten sich glücklich retten. Odysseus hatte mit einer List ein hölzernes Pferd in die Stadt geschleust. Die Soldaten waren aus seinem Bauch geklettert und wüteten nun in Troja durch den aufgestauten Zorn der verflossenen Jahre. Unter den Flüchtenden war der trojanische Held Aeneas. In jener verhängnisvollen Nacht erschien ihm in einem Traum der gefallene Hektor. Dieser mahnte ihn, eilig die bedrohte Stadt zu verlassen: "Nimm deine Hausgötter, die Penaten, vom Altar und führe sie mit dir; denn es ist dir beschieden, in weiter Ferne eine neue Heimat zu finden."
Aus dem Schlafe erwachend, hörte Aeneas den Kampfeslärm der mordenden Feinde. Er eilte auf die Straße, sah die Stadt brennen und in den Gassen die Leichen der Erschlagenen liegen. Jeder Widerstand war sinnlos. Daraufhin eilte Aeneas zurück ins Haus, um seinen Vater Anchises, seine Frau Crëusa und den kleinen Sohn Askanius aus der brennenden Stadt zu retten. Zuerst weigerte sich der alte Anchises. Er wollte Trojas Zusammenbruch nicht überleben.
Ein Wunderzeichen der Götter kam Aeneas bei der Überzeugungsarbeit zur Hilfe. Es fiel vom Himmel eine Flamme auf das Haupt seines Enkels - ohne ihm jedoch das Haar zu versengen! Daraufhin war der Vater bereit zu Flucht. Aeneas trug ihn auf die Schultern, griff nach den Hausgöttern auf dem Altar und floh mit Frau und Kind aus Troja.
Flucht
Venus, seine göttliche Mutter, bahnte ihnen den Weg durch die vom Kampfgetümmel erfüllte Stadt. Allerdings verlor Aeneas im Gewirr der brennenden Gassen seine Frau aus den Augen. Er sollte sie nie mehr wiederfinden.
Mit wenigen Gefährten gelangte Aeneas an das Ufer des Meeres. Hier bauten sie eine kleine Flotte, und Aeneas trat mit ihnen den bitteren Weg in die Fremde an, um die neue Heimat, die ihm verheißen war, zu suchen.
Zunächst landeten sie auf der Insel Delos. Hier flehte Aeneas im Tempel Apollons um Rat, und der Gott wies ihn in das Land der Italer, das von seinen Bewohnern Italien benannt wurde. In diesem Lande der Verheißung sollte Aeneas eine neue Bleibe bauen. Die Reise war lang und gefährlich. Nicht wenige büßten dabei ihr Leben ein. Auch der Vater von Aeneas war darunter.
Karthago und die schöne Dido
Fast erreichten sie schon die verheißene Küste, so trieb sie ein furchtbarer Sturm an den Strand Nordafrikas. Die Seefahrer gingen an Land, um es zu erkunden. Von einem Hügel aus sahen sie in der Ferne eine prächtige Stadt, die sich mit gewaltigen Mauern und einer festen Burg zum Himmel erhob. Dies war Karthago, die "Neue Stadt". Sie war erst vor kurzer Zeit gegründet worden. Die Königin dieser Eingewanderten war die schöne Dido, die mit klugem Sinn und starker Hand das Geschick ihres Volkes lenkte.
Sie gewährte den Schiffbrüchigen Hilfe und bot ihnen gastfreundliche Aufnahme. Es währte nicht lange, da entbrannte die schöne Königin in so heftiger Liebe zu dem Helden Aeneas, dass er den Schmerz um die verlorene Heimat, die erlittenen Mühen - und das Land Italien ganz vergaß, in dem er nach dem Geheiß der Götter der Begründer eines neuen Volkes werden sollte.
Jupiter erinnert Aeneas
Da rief Jupiter, der höchste der Götter, seinen Boten zu sich, seinen Sohn Merkurius: "Eile hinab zur Erde und erinnere den Aeneas an seine Aufgabe! Nicht darum habe ich ihn aus den Nöten und der langen Irrfahrt errettet, damit er hier nun als Sklave eines Weibes lebe. Erinnere ihn daran, dass ich ihn zum Stammvater eines Volkes bestimmt habe, dem ich die Herrschaft über die Erde geben will!"
Die göttliche Botschaft, die Merkurius überbrachte, riss Aeneas aus seinem Liebestraum. Als ihm die Erinnerung wieder kam, rüstete er sogleich zur Abfahrt. Voller Verzweiflung sah Dido, dass der Geliebte sie verlassen wollte, und als er trotz ihres Flehens mit seinen Getreuen heimlich davonfuhr, erschien ihr das Dasein sinnlos. Sie ließ einen Scheiterhaufen errichten und gab sich selber mit dem Schwert ihres Geliebten den Tod.
In Italien
Aeneas landete mit den Gefährten an Italiens Westküste, nahe der Tibermündung, in der Landschaft Latium, die vom König Latinus regiert wurde. Dieser fand Gefallen an den Fremden, deren Führer göttlicher Abkunft war und die so herrlicher Kriegsruhm zierte. Er nahm sie auf, und gewährte die Bitte, im Lande bleiben zu dürfen. Gemäß einer alten Weissagung, versprach König Latinus, seine Tochter, die schöne Lavinia, dem Helden Aeneas zur Frau zu geben.
Eifersucht und Rache
Doch eifersüchtig und voller Rachegefühle blickte Turnus, der König der benachbarten Rutuler, auf den Nebenbuhler, der ihm vorgezogen wurde. Turnus war zuvor mit Lavinia verlobt gewesen, und die Mutter Lavinias stand auf seiner Seite und säte Zwietracht. Ein schwerer Krieg entbrannte. Es gelang Aeneas und seinen Troern mit Hilfe der Götter die Latiner und Rutuler zu besiegen. König Turnus wurde von Aeneas im Zweikampf getötet.
Nach der Versöhnung mit König Latinus heiratete Aeneas die schöne Lavinia. Er baute eine Stadt, die er ihr zu Ehren Lavinium nannte. Auch setzte Latinus den troischen Helden zu seinem Erben ein.
So wurde Aeneas König in Latium, und die beiden Völker der Troer und Latiner wuchsen immer mehr zusammen. Erneut bereiteten sich die Rutuler auf einen Krieg gegen Aeneas vor. Sie konnten es nicht ertragen, dass die Eingewanderter siegreich gewesen waren. Die Rutuler verbündeten sich mit den benachbarten Etruskern, und schon bald standen die feindlichen Heere drohend an der Grenze des neuen Staates.
Auch diesen Krieg gewannen Latiner und Troer, aber der König starb darin. Von dem reißenden Fluss Numikus wurde er erfasst und fortgerissen. Er ertrank. Sein Volk erwies dem Helden göttliche Ehren und machte seinen Sohn Askanius zum König. Unter seiner weisen Herrschaft kam der Friede zwischen Latinern und Etruskern zustande. Von nun an bildete der Tiber die Grenze zwischen beiden Völkern. Die Stadt Lavinium wuchs und wuchs, sodass ihre Mauern die vielen Menschen bald nicht mehr fasste.
Alba Longa
Askanius überließ seiner Mutter die Stadt und gründete am Fuße der Albanerberge eine "lange weiße" Stadt, Alba Longa. Über dreihundert Jahre haben hier seine Nachkommen als Könige über die weite Landschaft in der Flussniederung des Tibers geherrscht.