Gerade oder krumm? Formenzeichnen in der 1. Klasse

Ein Beitrag von Gepa Datz (Freie Waldorfschule Mainz)

„Die Linie ist eine Kraft." Was Henry van de Velde auf seinem Weg zu einem modernen Design 1902 geradezu programmatisch festhielt, formulierte ganz ähnlich auch Rudolf Steiner, wenn er später in diversen Vorträgen zur Erziehungskunst das systematische Zeichnen linearer Formen empfahl. In der Unterstufe pflegen Waldorfschulen das daraus entwickelte Fach im gleichen Umfang wie Rechnen und Schreiben - und bereits am Tag ihrer Einschulung zeichnen die Kinder hier stets eine „Gerade" und eine „Krumme" nacheinander an die Tafel oder in das eigene erste Heft.

Die einzelne Linie erscheint dabei grundsätzlich nicht als reine Kontur, sondern als das Ergebnis von Entwicklungen und Bewegungen wie denen der Hände beim Zeichnen oder jenen der Augen beim Betrachten - d.h. durch die Energie ihres Urhebers erlangt eine Linie ihre spezielle Kraft.

Wird dieser Kraft nachgespürt, lässt sich eine Form nachhaltig erleben und trägt so auch zur Stärkung der verschiedenen Sinne bei. Die gewonnene Raumerfahrung entfaltet ihren Nutzen dann zum Beispiel in der Geometrie, die Schulung des Willens erzieht das Temperament, die geübte Feinmotorik unterstützt das Schreibenlernen und mit der konkreten Schöpferkraft wächst die Phantasie.

Als sich unsere Erstklässler irgendwann im Frühjahr zum Abschluss ihrer dritten Formen-Epoche ins Freie begeben, dürfen sie ihre neuen Fähigkeiten einmal im wahrsten Sinne des Wortes „ganz groß" ausleben. Mit bunter Kreide ausgestattet verteilen sie sich rasch über den asphaltierten Pausenhof, um dann je nach Temperament recht unterschiedlich vorzugehen. Einige verharren zunächst still auf den Knien vor ihrer noch leeren Malfläche und erinnern offenbar erst noch einmal das Repertoire der Vergangenheit.

Etliche stecken dann vorsichtig die Rahmen für ihre Bilder ab, so wie sie es aus ihren Heften gewohnt sind. Wieder andere dagegen legen gleich voll los - und zwar nun nicht nur vorrangig mit der Hand, sondern manchmal schon fast akrobatisch mit dem Einsatz des ganzen Körpers. Die einen strecken sich dabei so lang wie sie nur können, ohne einen Schritt weiter zu gehen. Andere rollen sich selbst immer mehr ein, wenn das auch ihre Form tun soll, und wieder andere erwandern sich regelrecht ihr Motiv. Im Wechsel mit einfachen „Geraden" stehen schließlich vielfach gebrochene Varianten dieser Grundform und neben mageren „Krummen" winden sich dicke Spiralen. Nach einer halben Stunde ist
der ganze Platz voll.

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