Von der Linie zur Fläche

Ein Beitrag von Thomas Wildgruber, Klassenlehrer

Weiter unten finden Sie eine Bildergalerie.

Wir kennen das Formenzeichen als ein pädagogisch äußerst wertvolles Fach, bei dem die Kinder sich im praktischen Zeichnen in immer feinerer Motorik üben. Zudem treten bei diesen Übungen der Sehsinn und die Leibessinne (Tasten, Eigenbewegung, Gleichgewicht, Lebenssinn) miteinander in Aktion - sie wirken bis in die leibliche Konstitution. 1

Ob mit Kreide auf Tafeln, mit Stiften auf Papier, mit Fingern oder mit Zehen in Sand, die entstehenden Linien sind am Ende mehr oder weniger geordnete und anspruchsvolle Bewegungsspuren.

Bilden sie Winkel oder kreuzen sie sich, verlieren die Linien ihren reinen aktiven linearen Bewegungscharakter und werden medial, Flächen treten hervor. Werden diese farbig gefüllt, ist die Linie nur noch passiv. Aktiv ist nun die Fläche.2 Damit ist der Schritt von der ersten in die zweite Dimension getan. Man kann mit den Kindern diesen Schritt auch im Formenzeichnen gezielt unternehmen. Es ist dann ein Schritt vom Zeichnerischen ins Malerische.3

Bei der Betrachtung der Temperamente im Formenzeichnen hat Rudolf Steiner in der vierten Seminarbesprechung solche Übungen angeregt. Er bemerkte bei seinen Beispielen unterschiedlicher Flächenfärbungen für das melancholische Kind: „Dadurch kommt Phantasie in Regsamkeit." Und: „Hier ist etwas, was gedanklich ist, mit der Anschauung vereinigt für das melancholische Kind." (25.8.1919, GA 295)

Den malerischen Übergang vom reinen Formenzeichnen in die zweite Dimension kann man auch unabhängig von der Temperamentenbehandlung als künstlerische Wahrnehmungs- und Gestaltungsübungen anlegen.

Ein Beispiel aus dem Formenzeichnen im 1. oder im 2. Schuljahr: Schräg absteigend und aufsteigend ziehen die Kinder die Linien im Rhythmus lang-kurz-lang. Beherrschen sie diese Figurenfolge, kann man sie auffordern z. B. von unten her die Fläche bis zur der Grenze der roten Linie rot zu färben. Auf einmal werden sie merken, dass da rote nach oben und weiße nach unten weisende Pfeile zu sehen sind! (Abb. 1 und 2)

So kann man immer wieder neue lineare Formen finden, die überraschende farbige Flächen erscheinen lassen wie z.B. die Lemniskate im Kreis. (Abb. 3 und 4)

Noch mehr ins Malerische führt dann dieses Flächenbilden, wenn sich zwei verschiedene Helligkeiten begegnen. (Abb. 5 und 6)

Dazu in der Galerie noch weitere Beispiele aus dem dritten Schuljahr.

Begegnen sich an der ehemals aktiven Linie nun in zwei benachbarten Flächen die jetzt aktiv ins Spiel tretenden Farben (oder auch nur eine Farbe in unterschiedlicher Helligkeit), so „handeln" beide nach einer Spielregel, die lautet: „Wo ich ganz hell bin, darfst du ganz dunkel sein!" Das verlangt von den Kindern eine wache Aufmerksamkeit und auch ein zeichnerisches Geschick im Gestalten der Übergänge von Hell nach Dunkel oder von Dunkel nach Hell. Es dauert eine Weile, bis sie das feinmotorisch hinbekommen.

Doch am Ende blicken die Kinder unter dem Anspruch des Gestalterischen befriedigt auf die aus ihren Linienzeichnungen neu entstandenen nun schon malerischen Gebilde.

Ein Tipp noch für den diese Arbeiten anleitenden Lehrer: Reine Linien an der Tafel vorzuzeichen ist unproblematisch. Will ich den Kindern aber vormachen, wie die Farben kräftiger, mithin dunkler aufgetragen werden, dann ist es wenig zweckmäßig, dies an der dunklen Schultafel mit Kreiden zu machen, da der stärkere Kreidenauftrag an der Tafel den Effekt des Hellerwerdens bringt. Man nehme einen großen Bogen Papier und zeichne darauf mit Tafelkreide, Pastellkreide oder mit Wachsblöckchen. Dies können die Kinder direkt nachmachen. (Abb. 7, 8, und 9)

Diese farbig ausgearbeiteten Formen eignen sich auch als größer angelegte Gruppenarbeiten oder als kleine Schmuckkarten z.B für die Weihnachtspost der Schule. (Zu beidem Bilder in der Galerie!)

Anmerkungen:

  1. Siehe dazu „Die zwölf Sinne" im Kapitel „Die malerischen Mittel in der Kunstdidaktik" in Thomas Wildgruber, Malen und Zeichnen, 1. bis 8. Schuljahr, Ein Handbuch, Verlag Freies Geistesleben, August 2009.
  2. Die Ausdrücke aktiv, medial, passiv benützt Paul Klee in Beiträge zu einer bildnerischen Formenlehre, Vorträge am Bauhaus,14.11.1921, in Paul Klee, Kunst-Lehre: Aufsätze, Vorträge, Rezensionen zur bildnerischen Formlehre, Leipzig 1991.
    Sehr ausführlich zum Verhältnis Linie und Fläche Wassily Kandinsky, Punkt und Linie zu Fläche, Bauhaus-Bücher, Band 9, 1926, Bern 1955.
  3. Dazu das Kapitel Formenzeichnen - von der Linie zur Fläche (s. Anm. 1)

 

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