Der kleine Karl

Am nächsten Morgen führte Walli Wehmut sie in den Wald. Das Meerweib lag in ihrer Wanne hinten im Wagen und bei ihr war Pippa Plappermaul. Perle der Papagei flog immerzu durchs Fenster hinein und Walli erklärte, ob die Wagen links, rechts oder geradeaus fahren sollten. Perle flog dann nach vorne zum ersten Wagen, in dem der Zirkusdirektor mit Cilla und den Kindern saß, und überbrachte die Nachricht. Nur langsam kamen sie voran, denn auf den schmalen Waldwegen konnten die Wagen nicht sehr schnell fahren. Zwei Tage und zwei Nächte waren sie schon unterwegs, am Morgen des dritten Tages kamen sie endlich auf eine Lichtung im Wald und auf der Lichtung stand ein Schloss. Die Wagen hielten vor dem Schloss an. Um den hohen Turm kreisten Krähen in der Luft und krächzten. Die Kinder kletterten vom Wagen und stiegen mit dem Zirkusdirektor und Cilla die große Treppe hinauf. Das Tor war verschlossen. Es gab keine Klingel, aber einen Türklopfer. Der Zirkusdirektor klopfte mit diesem dreimal kräftig gegen das Tor. Keiner öffnete. Nichts war zu hören, bis auf das Krächzen der Krähen. "Komisch", knurrte der Zirkusdirektor und klopfte noch einmal. Da hörten sie ein Kratzen hinter der Tür. Es war, als ob Krallen an Holz kratzten. Dann krachte es plötzlich sehr laut. Oben im ersten Stock flog ein Fenster auf. Die Kinder traten ein paar Schritte zurück und schauten nach oben. Sie konnten nichts erkennen, aber sie hörten eine Stimme, die rief: "Wer seid ihr und was wollt ihr, sprecht kurz und knapp." Es hörte sich wie eine Kinderstimme an. Da rief der Zirkusdirektor: "Wir kommen, um Karl zu besuchen, lasst uns herein." Die Kinderstimme rief zurück: "Keiner kommt hier rein. Verschwindet!" Und mit einem Knall flog etwas aus dem Fenster, ganz knapp am Kopf des Zirkusdirektors vorbei und landete auf der Treppe. Es war ein kleiner silberner Kerzenständer. Die Stimme schrie: "Kohlköpfe, Kakerlaken, Kuhfüße, haut ab und kommt nie wieder." Der Zirkusdirektor hob den Kerzenständer auf, schüttelte bekümmert den Kopf und sagte: "Mit diesem Karl ist nicht gut Kirschen essen. Kommt, wir gehen besser. Wer uns so feige aus dem Fenster bewirft, der verdient unseren Besuch wohl kaum."

Cilla schluchzte laut auf: "Aber wir können doch nicht einfach so gehen was ist mit Karl?" Im Schloss war wieder ein Krachen und Rumpeln zu hören. Dann öffnete sich plötzlich knarrend die Tür. Mit einem großen Satz kam ein Katze hinaus gesprungen. Ihr Fell war orange rot, sie sah wie ein kleiner Löwe aus. Die Katze hatte als Zaumzeug eine Kette um den Hals gewickelt und auf ihrem Rücken stand ein kleines Kerlchen. Es war ein Knirps, so groß wie die Spanne einer Hand. Er hatt einen knallroten Mantel an, trug auf dem Kopf eine kleine Krone und hielt in der Faust eine spitze Stecknadel, die er wie einen Degen hochreckte. Kühn sah er nach oben: "Feige sagt ihr? Wer ist hier feige?" Und mit seiner hohen Stimme begann das kleine Kerlchen kräftig zu schreien:

 

Kennt ihr den Karl, den Karlemann?
So kurz und klein, seht ihn euch an.
Den Knirps, das Krummbein, schaut nur her,
Er kann etwas, das kann nur er.
Auf seiner wilden Kratzekatze
Kämpft er mit Kraft und Katzentatze
Denn er ist kühn und flink und keck
Der kleine König kommt, oh Schreck.

 

Da stieß Cilla einen hohen spitzen Schrei aus. "Aber das ist ja Karl! Karlchen, Karlemann komm her zu mir. Wo warst du nur die ganze Zeit und wieso bist du so klein?" Sie bückte sich und nahm ihn auf ihre Handfläche und gab ihm ganz vorsichtig einen Kuss auf die kleine Nasenspitze. Da blickte der kleine König Cilla die Clownsdame an. "Ach du bist es, Cilla" und er schaute beschämt zu Boden. "Weißt du, ich konnte nicht... da war dieses Unglück... es war ein Unfall... ich dachte, die Leute lachen mich nur aus. Ich hab mich so klein und kümmerlich gefühlt, da bin ich abgehauen." "Aber Karl", antwortete Cilla, "was ist denn geschehen, was für ein Unglück, wieso bist du denn auf einmal so... nun ja, so klein?" "Das ist eine lange Geschichte, aber wenn ihr sie hören wollt, dann kommt ins Schloss, ich lade euch alle auf einen Keks ein."

Kurze Zeit später saßen sie auf riesigen roten Kanapees im Saal des Schlosses, aßen Kekse und tranken Kaffee. Der kleine König hockte auf der Lehne und begann zu erzählen. "Kürzlich, da wollte ich meinen alten Kumpel, den Zauberer Zacharias Zunzelmann besuchen. Ich kam also hierher in sein Schloss, klopfte, doch er war nicht zuhause. Stattdessen öffnete mir eine alte Frau. Sie hatte einen krummen Rücken, so einen richtigen Buckel und lud mich in die Küche zu einem Tee ein. Gegen eine kleine Pause hatte ich nichts einzuwenden, ich setzte mich auf einen Hocker und dachte bei mir, vielleicht kommt Zacharias, der alte Knabe, ja noch zurück. Die Alte hatte auf dem Herd einen Kessel zum Kochen gebracht und füllte nun den Tee in einen Krug. Sie gab mir davon aus einem Kelch zu trinken. Es war aber ein schlimmer Kräutertrank und die Alte war wohl eine Hexe, die sich ins Schloss geschlichen hatte. Ich dachte noch, 'das schmeckt aber komisch', da wurde mir schon kalt und kümmerlich zumute. Die Kräfte schwanden und dann ich muss wohl eingeschlafen sein. Als ich erwachte, war ich so klein wie eine Hand, ein Knirps, ein Kerlchen war ich. Die Hexe aber war verschwunden. Mit Mühe kletterte ich vom Hocker und wäre die Katze nicht gewesen, so hätte ich wohl kaum in diesem großen Schloss überleben können. Ich schloss Freundschaft mit der Kratzekatze, bis ich auf ihrem Rücken reiten konnte und sie trug mich fortan durchs Haus. Im Keller fand ich alles, was ich zum Leben brauchte. Kuchen, Kekse, Kaffee, Kakao, Käse und Kohl. Zacharias Zunzelmann aber blieb bis heute verschwunden. Also nahm ich sein Schloss in Besitz, und wurde zum kleinen König. Seitdem habe ich keine Menschenseele mehr zu Gesicht bekommen."

Der kleine König schaute hoch: "Ach Cilla, was soll jetzt aus uns beiden werden, ich bin soo klein und du soo groß?" Cilla aber sah zum ersten Mal, seit Anna sie kennen gelernt hatte, glücklich aus. "Karl das soll uns nicht bekümmern. Kommt Zeit, kommt Rat. Ich bin so glücklich, dich wieder gefunden zu haben, jetzt wird alles gut." Und mit diesen Worten küsste sie den kleinen König noch einmal ganz vorsichtig auf die Nasenspitze.

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