Buchstabeneinführung

Ein Beitrag von Sonja Ernst

Bei der Buchstabeneinführung gehen die Waldorfschulen einen besonderen Weg. Wir stellen uns primär nicht die Frage, wie man den Kindern möglichst effektiv und schnell das Schreiben und Lesen beibringen kann, sondern wir richten unseren Blick auf die Frage, wie wir in Bezug auf den Schrifterwerb der Seelensituation der Kinder möglichst genau entsprechen können.

Die meisten Regelschulen zielen nach wie vor auf Schnelligkeit und Fehlerminimierung:
Ein A hat man mit drei einfachen Strichen schnell an die Tafel geschrieben. Wenn man den Kindern nun erzählt: „Das ist ein A, sprecht es alle einmal nach und kennt ihr Wörter, die mit A anfangen?“, so könnte man anschließend dazu übergehen, das A in eine vorbereitete Leerzeile eines Übungsheftes zu schreiben. Vielleicht sieht man dort noch einen lustigen Affen oder eine fleißige Ameise abgedruckt. Und in den nächsten Tagen folgen dann Wiederholungen und in schneller Folge weitere Buchstaben. Je nach Talent und Übung wird das Kind auf diese Weise rasch alle Buchstaben kennenlernen.

Die Waldorfschulen wollen hingegen den ganzen Menschen aktivieren: sein Erkennen, Fühlen und Tätigsein. Es gilt, die Seele des Kindes umfassend zu nähren und nicht nur seinen Kopf zu füttern.


Die Waldorf-Methode ist eine andere:

Im Grunde sollen die Kinder in der Waldorfschule am Ende des 1. Schuljahres 26 neue Freunde gefunden haben – die 26 Buchstaben des Alphabets. Freunde finden, das braucht Zeit, da kann man nicht von einem zum andern eilen. Auch sollte man mehr über einen Freund wissen, als wie er ausschaut. Mit Freunden braucht man gemeinsame Erlebnisse und auch gemeinsame Erinnerungen.


Die Geschichte, das Bild

Das Mittel der Wahl ist hier die Geschichte. Jeder kennt sie, die Kinder, die mit offenem Mund zuhören und eine Geschichte so empfinden, als hätten sie sie gerade selbst erlebt.

Machen wir es praktisch. Hier eine Geschichte, die man zum Buchstaben G erzählen könnte:

Gerda, die Gans

Es war einmal eine alte Frau, die wohnte alleine am Rand eines kleinen Dorfes in einem winzigen Häuschen. Sie war sehr arm. Daher baute sie in ihrem Garten Gemüse an, welches sie jeden Samstag auf dem Markt der naheliegenden Stadt verkaufte. So reichte es gerade fürs Leben, aber es war eine schwere Arbeit. Ihre Kohlköpfe, Kartoffeln, Möhren, Tomaten und Radieschen wuchsen so schön und prächtig, dass sie weithin bekannt waren.

Ihr Grundstück war von einem alten, wackeligen Zaun umgeben, denn das Mütterchen hielt auch 7 Gänse, die all die Gartenabfälle fraßen. Eine Gans hieß Gerda. Die war besonders hübsch. Sie schnatterte für ihr Leben gern und bekam vom Mütterchen immer einen besonderen Leckerbissen.

Nun gab es im Dorf aber auch zwei Lausbuben, die es faustdick hinter den Ohren hatten. Eines Abends nach Einbruch der Dunkelheit machten sie sich auf den Weg, um der alten Frau ihre leckeren Tomaten von den Stauden zu klauen. Sie waren gerade über den Zaun geklettert, da hatte Gerda die Eindringlinge schon bemerkt und fing lauthals an zu schnattern. Sofort fielen die anderen 6 mit ein. Vielleicht ihr könnt euch vorstellen, was das für einen Lärm gab. Aber damit noch nicht genug: Gerda lief im schnellen Gänsemarsch auf die Lausbuben zu und schnappte mit ihrem Schnabel nach den weichen Waden der Kinder. Diese schrien auf und wollten flüchten. Da kamen die anderen Gänse und jagten die beiden laut schnatternd und zwickend um das Haus herum. Die alte Frau, die aufgrund des Lärms aus ihrem Bett gestiegen war, kam gerade aus dem Haus, als die Jungs ohne Tomaten, aber mit vielen blauen Flecken heulend das Weite suchten. „Meine lieben Gänse“, sprach das Mütterchen, „ihr seid aufmerksamer als jeder Wachhund!“ Zur Belohnung bekamen sie eine Extraportion Grünzeug. Anschließend betteten sich die Gänse zur Ruh. Die alte Frau ging aber noch einmal zu Gerda und fuhr mit der Hand über ihr Federkleid. „Du warst bestimmt wieder die Aufmerksamste!“ Wohlig bewegte Gerda ihren langen schönen Hals durch die Luft und legte ihn nach Gänseart anschließend zum Schlafe nieder. Aber wie machen die Gänse das? Sie legen ihren Kopf sanft und weich nach hinter auf einen Flügel. Gerda schloss die Augen und träumte einen schönen Gänsetraum. Das Mütterchen aber ging leise in ihr kleines Häuschen zurück, dankte Gott und schlief ebenfalls zufrieden ein.

 

Fühlen im 1. Schritt

Mittels dieser Geschichte kann sich das Kind mit der Gans innerlich ganz verbinden. Es verbindet Erlebnisse damit. Es hat das Schnattern, Zwicken, Jagen, Verteidigen der Tomaten, die Dankbarkeit und das Streicheln der alten Frau gefühlt und erlebt.

Im Zentrum allen Lernens steht immer das Gefühl. Es kennzeichnet unsere Mitte und erfordert die erste Ansprache. Das Gefühl breitet Verbundenheit und Wärme über den Lerninhalt aus. Ansonsten blieben alle Bemühungen blutleer und verkopft. Die erste Aufgabe des Lehrenden besteht also darin, dem Kind im 1. Schuljahr die Lerninhalte durch sinnhafte Bilder und Stimmungen aufzuschießen.

 

Tätigkeitsein im 2. Schritt

Wenn uns etwas berührt hat, dann wollen wir dem auf irgendeine Weise Ausdruck verleihen, es verarbeiten. Dafür bietet sich die Kunst an. Insbesondere die Malerei ist geeignet, weil normalerweise jedes Kind voraussetzungslos malen kann.

Aus der Buchstabengeschichte entsteht jetzt ein Bild in den Epochenheften der Kinder. Engagiertes Malen bedeutet höchste innere Aktivität, eine kreative Umsetzung und Verarbeitung der inneren Bilder und Gefühle.

Nach den ersten zwei Schritten der Buchstabeneinführung greift die Waldorfpädagogik nun zu einem weithin unbeachteten pädagogischen Mittel: die Nacht. Im Schlaf verarbeiten und verwandeln wir auf unbewusste Weise, was wir den Tag über erlebt haben. Wie bei einem Glas schlammigen Wassers, setzen sich die schwereren Teile auf dem Grund des Glases ab, während es oben aufklart. Auch das gestern Erlebte erscheint heute in einem etwas anderen Licht.

 

Verstehen im 3. Schritt

Am nächsten Morgen tritt uns aus dem gestern gemalten Bild das G in der schlafenden Gans fast wie von selbst entgegen. Wir schreiben das G in das Bild neben die Gans.

Erst jetzt befinden wir uns auf der Erkenntnisebene und können sagen: „So schreiben wir, wenn wir G hören.“ Gemeinsam suchen nun die Kinder Wörter, die mit G anfangen oder in denen ein G versteckt ist. Zu guter Letzt machen wir uns mit den Bewegungsabläufen und Schwüngen des Buchstabens vertraut und üben diese mehrfach konzentriert in unserem Epochenheft.

 

Dreischritt-Methode

Mit dieser Methode, die wir in der Waldorfschule bei der Buchstabeneinführung praktizieren, haben wir das ganze Seelenleben des Kindes angesprochen: Zuerst die Mitte (unser Fühlen), dann die Gliedmaßen (unser Tätigsein) und am Ende den Kopf (unser Verstehen).

Auf diese Art benötigen wir für jeden Buchstabe mindestens zwei Tage. Will man einen Buchstaben darüber hinaus noch nachlaufen, kneten, basteln (2. Schritt), so sollte man sich insgesamt drei Tage Zeit nehmen. Natürlich ist man frei auch andere Zeit-Modelle mit Überlappungen zu wählen.

 

Das Üben

Nach dem Kennenlernen, folgt der Übprozess. Hat man einen neuen Freund gefunden, so muss man diese Freundschaft pflegen. Man darf ihn nicht gleich wieder vergessen.

Für den Rest der Epoche kehren die gelernten Buchstaben systematisch wiederholend wieder. Dabei geht es nicht nur um das Schreiben, sondern natürlich auch um das individuelle Benennen-Können der Buchstaben. Insbesondere bei Kindern, die sich die Buchstaben nicht so leicht merken können, braucht es Übungswege, die leicht, überschaubar und systematisch sind. Einen solchen finden Sie z.B. unter Buchstaben-Kärtchen. Auch gibt es vielfältige Buchstabenübungen, die als Klasse sehr viel Freude machen und ergiebig sind.

Ziel ist es, nach dem 1. Schuljahr im Wesentlichen alle Buchstaben zu kennen und auch zu können. Je nachdem, ob man die Druck- oder Schreibschrift als Erstschrift wählt, benötigt man unterschiedlich viel Zeit. Bei der Druckschrift nimmt man im ersten Jahr nur die Großbuchstaben, bei der Schreibschrift führt man zugleich auch die Kleinbuchstaben ein. Dafür wird man entweder die Epochenwochenzahl für das Schreiben im 1. Schuljahr ein wenig heraufsetzen oder man verwendet noch eine Epoche im 2. Schuljahr für die restlichen Buchstaben.

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