Hörbuch aufnehmen (3)

Ein Beitrag von Marcus Kraneburg (Freie Waldorfschule St. Georgen, Freiburg)

 

Zunächst die Ankündigung an die Schüler (6. Kl.) und Eltern, weiter unten dann das Projekt.

 

Liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Eltern!

Gleich zu Beginn des Jahres haben wir eine Deutschepoche. Darin wollen wir üben, spannend und vielseitig schriftlich zu erzählen. Wir werden ein kleines Büchlein schreiben, das sich über fünf Kapitel erstreckt. Jedes Kapitel ist von mir so vorbereitet, dass es eine Rahmenhandlung in Stichpunkten vorgibt. Eure Aufgabe ist es, die Handlung mit Leben zu füllen. Sie lässt Euch viele Freiräume, eigene Ideen und Wendungen der Geschichte zu entwickeln. Jedes Kapitel enthält zusätzlich von mir eine ganze Reihe von Fragen. Ihr müsst nicht jede Frage beantworten, aber sie sollen Euch anregen, eine gute Geschichte zu schreiben.

Rein praktisch sieht es so aus, dass Ihr an einem Tag ein Kapitel vorschreibt und am Nachmittag Eure Eltern bittet, den Text auf Rechtschreibung hin durchzusehen. Der zweite Tag ist dafür reserviert, dass Ihr Euren Text im Hauptunterricht ins Reine schreibt. Auf diese Art benötigen wir zehn Tage für die fünf Kapitel. Ihr könnt Euer Büchlein mit eigenen Bildern ergänzen. Am Ende soll es richtig schön aussehen.

Die dritte Woche der Epoche ist dafür reserviert, eine Eurer Geschichten als Hörspiel aufzunehmen. Dazu werde ich alle Bücher am zweiten Wochenende durchsehen und die geeignetste auswählen. Jeder bekommt dann das Manuskript. Wir werden zusammen Leserollen verteilen und überlegen, welche Geräusche im Hintergrund für die Aufnahme zu machen sind. Dafür können wir zwei Tage üben und am Freitag der dritten Woche nehmen wir auf. Jeder von Euch erhält dann am Ende eine CD mit unserem Hörbuch.

Für die Eltern sei gesagt, dass man diese Aufgabe auf unterschiedlichstem Niveau zufriedenstellend lösen kann. Manche Schüler werden viele Seiten schreiben und kaum zu bremsen sein. Anderen fällt nicht ganz so viel ein und die Erzählung wird insgesamt schlichter. Dies ist aber keineswegs schlimm. Jeder nach seinen Möglichkeiten.

Ich freue mich auf wunderbare Geschichten!

"Es ist dies die Geschichte von der magischen Gondel ..."

Differenziertere Ausführungen zum Vorgehen finden Sie  HIER. 

 

Die folgenden Informationen erhielten die Kinder für jedes neue Kapitel: 

Die magische Gondel

Hauptperson: zwölf Jahre, schreibe in der Ich-Perspektive.

 

Erstes Kapitel

Du fährst für eine Woche mit der Familie nach Venedig. (Du musst nicht Du sein :-) Wenn Du möchtest, kannst Du jemand ganz anders sein)  Während dieser Zeit findet dort die Regata storica statt. Dies ist ein jährliches Highlight des in Venedig sehr verbreiteten Rudersports. Vor der eigentlichen Regatta findet die historische Bootsparade mit vielen Gondeln und Barken statt, welche in einer feierlichen Prozession über den Canal Grande gerudert werden. Alle Boote sind bis ins kleinste Detail historisch geschmückt und die Gondolieri tragen Kostüme im Stil des 15. Jahrhunderts.

Überall stehen Touristen gedrängt. Du findest mit Deiner Familie glücklicherweise einen Platz ganz vorne. Eine rote Gondel, die von einem einäugigen alten Mann gesteuert wird, der ebenfalls ganz in Rot gekleidet ist, hält auf Dich zu. Er fordert Dich mit einer Handgeste zum Einsteigen auf. Kaum betrittst Du die Gondel ertönt ein Knall mit einem Lichtblitz. Du verlierst Dein Bewusstsein.

Möglicher Anfang:

Es ist dies die Geschichte von der magischen Gondel. Sie fing zunächst ganz harmlos an. Es war Mitte September, als mein Vater uns überraschte, dass wir die Herbstferien in Venedig verbringen würden. Venedig war doch die Stadt, die auf Pfosten ins Wasser der Küste Italiens gebaut wurde. Es soll eine schöne und aufregende Stadt sein, auf dessen Wasserstraßen man sich mit Gondeln und Booten bewegte.

Meine Familie bestand aus ...

Lasse folgende Fragen und Punkte mit in Deine Geschichte einfließen:

  • Wer gehört zu Deiner Familie?
  • Beschreibe die einzelnen Personen, nenne ihre Eigenarten.
  • Beschreibe Dich selbst. Wie siehst Du aus, welche Eigenschaften hast Du?
  • Nenne den Grund der Reise.
  • Wie seid Ihr angereist? Wo seid Ihr in Venedig untergebracht? Beschreibe das Hotel oder das Haus ...
  • Was habt Ihr Euch in Venedig vorgenommen zu tun?
  • Wann findet die Regata storica statt?
  • Erkläre, was das ist (siehe oben). Beschreibe den Tag, an dem sie stattfindet. Was siehst Du alles auf der historischen Bootsparade?
  • Wie empfindest Du die Menschenmengen, das Gedränge? Wie findest Du trotzdem einen Platz ganz vorne? Warum fällt Dir die rote Gondel auf?
  • Was denkst Du, als der einäugige Mann Dich auffordert einzusteigen? Warum steigst Du ein?
  • Wie ist das, wenn Du bewusstlos wirst?

 

Zweites Kapitel

Du erwachst in einer anderen Zeit. Dies wird Dir aber erst schrittweise klar. Du sitzt in derselben roten Gondel mit demselben alten, einäugigen Mann. Du trägst Kleidung aus dem 15. Jahrhundert. Die Menschenmengen an den Ufern tut dies ebenfalls! Der Mann lenkt die Gondel aus der Stadt zu einem einsam stehenden Haus. Du bestürmst ihn gleich mit Fragen, aber erst, nachdem er angelegt hat und Ihr Euch in das Haus begeben habt, antwortet er Dir. Er klärt Dich darüber auf, dass Ihr eine Zeitreise gemacht habt und Du Dich momentan im Jahre 1480 befindest. Der Grund: Du hast die einmalige Gelegenheit, etwas in der Vergangenheit zu verändert, was in Deiner Gegenwart zu einem Unglück geführt hätte. Genaueres will er Dir erst am nächsten Morgen mitteilen. Du bist neugierig, wütend und zugleich ein wenig ängstlich.

Es ist erst Mittag und Du kannst in dem Haus, in dem ansonsten niemand wohnt, übernachten. Den Tag kannst du nutzen, um durch Venedig zu streifen. Dir steht ein kleines Boot zur Verfügung. Bei Deinem Streifzug durch die Stadt machst Du eine wesentliche Erfahrung. Du verstehst die italienische Sprache und sprichst sie wie Deine Muttersprache. Allerdings kannst Du niemandem etwas über Deine Situation erzählen. Wenn Du es möchtest, bekommst Du kein Wort heraus. Es ist wie eine Art Sperre. Wörter, die es damals nicht gab, werden automatisch in zeitgemäße Wörter umgewandelt. Willst Du zum Beispiel sagen: "Haben Sie zu der Wurst auch Catchup?", dann kommt heraus: "Habt Ihr zu der Wurst noch ein paar Gewürze?" Ein "iPhone" könnte zum  "Spiegel" werden oder ein "Film" zum "Kostümstück"

Du ruderst mit dem Boot zurück in die Stadt und verbringst den Tag dort. Abends schläfst Du mit vielen Fragen im Kopf ein.

Möglicher Anfang:

Etwas benommen schlug ich meine Augen auf. Sie fielen auf meine Jeans, das heißt wo meine Jeans vorher gewesen war: Ich trug einen blauen Rock aus grober Baumwolle. Ich zwickte mich, um festzustellen, dass ich nicht träumte. Ich träumte jedoch nicht, stattdessen sah ich an mir .....

Lasse folgende Fragen und Punkte mit in Deine Geschichte einfließen:

  • Durch welche Dinge wird Dir langsam klar, dass etwas nicht ganz stimmt?
  • Was ist alles anders? Was ist auf den Straßen Venedigs im 15. Jahrhundert sicher nicht zu finden?
  • Was für Fragen stellst Du dem alten Mann?
  • Entwerfe im Haus einen Dialog (Gespräch) zwischen Dir und dem Mann.
  • Wie kommst Du allein mit dem Boot zurecht, wenn Du in die Stadt fahren willst?
  • Wie stellst Du fest, dass es Dir nicht gelingt, anderen Menschen etwas über Deine Zeitreise zu sagen?
  • Lernst Du jemanden näher in der Stadt kennen? Was machst Du in der Stadt am Nachmittag?
  • Was gehen Dir am Abend vor dem Einschlafen für Gedanken durch den Kopf?

 

Drittes Kapitel

Du erwachst in dem Häuschen. Nach dem Frühstück kommt der alte Mann mit der Augenklappe zu Dir. Er erzählt Dir Folgendes: In der Gegenwart wird Deine Familie in zwei Tagen die berühmte Markuskirche besichtigen. Während dieser Besichtigung wird sich ein Schlussstein aus dem Deckengewölbe lösen und damit das gesamte Dach der Kirche zum Einsturz bringen. Alle Touristen finden den Tod, auch Deine Eltern. Die Ursache dafür ist in der Vergangenheit zu suchen, in die der alte Mann Dich gebracht hat. Hier wurde nämlich die Kirche erbaut.

Morgen um 14:00 Uhr wird genau dieser Schlussstein in das Deckengewölbe eingesetzt. Dabei machte der Steinmetzmeister einen verhängnisvollen Fehler, der sich 533 Jahre später in dem Zusammenbruch der Kirche äußert. "Ich gebe Dir die Möglichkeit, den Fehler zu verhindern und damit das Leben Deiner Eltern zu retten", sagte der Einäugige. Wie Du das anstellen könntest, verrät er Dir nicht. Er sagt nur noch, dass Du morgen Nachmittag um 16:00 Uhr die Rückreise in die Gegenwart antreten musst. Nur dann ist das Zeitfenster für die Rückreise geöffnet. Das nächste Rückreise wäre erst in fünf Jahren wieder möglich. Du wirst also um 16:00 Uhr auf der roten Gondel sein müssen. Der einäugige Mann verschwindet.

Du fährst mit dem Boot in die Stadt und versuchst zunächst die Markus Kirche ausfindig zu machen. Vielleicht triffst Du einen Jungen oder ein Mädchen Deines Alters, welcher/s Dir bei der Aufgabe helfen kann. Natürlich kannst Du ihm/ihr von Deiner Aufgabe nichts erzählen. Die Sperre hindert Dich. Du kannst es ja versuchen. Nach einigem Fragen findest Du die Kirche auf dem Platz San Marco. Sie ist noch eingerüstet und die Arbeiten am Dach sind in vollem Gange. Du findest den Grund heraus, warum die Kirche in 500 Jahren einstürzen wird. Es bleibt Dir nicht mehr viel Zeit, es zu verhindern ....

Möglicher Anfang:

Als ich die Augen aufschlug war es in dem kleinen Häuschen schon hell. Trotzdem brauchte ich einige Zeit, um mich zu erinnern, was gestern geschehen war. Doch dann stieg mir ein Geruch in die Nase. Und richtig, ich fand duftendes und noch warmes Weißbrot auf dem Küchentisch ...

Lasse folgende Fragen und Punkte mit in Deine Geschichte einfließen:

  • Wie reagierst Du, als der einäugige Mann Dir von dem bevorstehenden Unglück Deiner Eltern erzählt?
  • Welche Fragen stellst Du ihm?
  • Warum erzählt Dir der Alte nicht, wie Du das Unglück verhindern sollst?
  • Wie triffst Du den Jungen oder das Mädchen, der oder das Dir möglicherweise helfen könnte?
  • Die große Frage lautet: Warum wird das Dach einstürzen? Wie findest Du es heraus?
  • Entwerfe einen Plan, es zu verhindern.
  • Erst am nächsten Tag wirst Du diesen Plan in die Tat umsetzen. Vielleicht kannst Du dafür schon einiges vorbereiten.

Wir werden im Klassengespräch verschiedene Möglichkeiten besprechen, wieso das Dach einstürzen könnte.

 

Viertes Kapitel

Im vierten Kapitel gehen die Handlungen unserer Geschichten weit auseinander. Jeder hat ganz verschiedene Ursachen für den Einsturz des Schlusssteins gefunden. Daher kann man den Inhalt des vierten Kapitels nur sehr allgemein angeben. Du sollst verhindern, dass der Fehler des Steinmetzes gemacht wird. Vielleicht schaffst Du es sogar, ein wenig Spannung aufzubauen. Möglicherweise klappt es nicht beim ersten Mal oder es kommt etwas Unvorhergesehenes dazwischen. Verwende immer wieder die wörtliche Rede.

Wir besprechen einige Möglichkeiten im Unterricht.

Bedenke, dass Du um 16:00 Uhr wieder an der Gondel sein musst. Vielleicht wird dies schwierig und die Zeit wird knapp.

Das vierte Kapitel endet, indem Du die Gondel gerade noch rechtzeitig erreichst.

 

Fünftes Kapitel

Du hast die Gondel wieder erreicht. Ein Knall ertönt, Du verlierst kurz Dein Bewusstsein. Alles ist wie vorher. Deine Eltern stehen am Ufer und fordern Dich auf zurückzukommen. Sie fragen, wieso Du einfach in die Gondel steigst. Du willst ihn erklären, was Du erlebt hast. Sie aber halten sich für total übergeschnappt und fragen sich, ob Dir nicht gut ist und Du Dich hinlegen willst. Du verneinst. Stattdessen versuchst Du sie zu überreden morgen nicht die Markuskirche zu besichtigen. Deine Eltern vermuten jedoch eher einen Trick dahinter, um eine langatmige Besichtigung verhindern zu können. Du gibst es auf. Ihr geht ins Hotel. In der Nacht träumst Du schlecht. Am nächsten Morgen findet die Besichtigung statt. Die Gruppe besteht aus etwa 20 Teilnehmern. Die Führung dauert lange. Du lässt jedoch den Schlussstein keinen Augenblick nicht außen Augen. Kurz vor dem Ende weist der Besichtigungsleiter auf die wunderbare Deckenkonstruktion der Kirche hin. In dem Augenblick rieselt ein wenig Sand zur Erde, der Stein jedoch bleibt fest. Alle erschrecken und Vater und Mutter werfen mir einen denkwürdigen und erstaunten Blick zu.

Hier darfst Du Dir ein gutes Ende überlegen.

Möglicher Anfang:

Wiederum ertönte ein Knall und erneut verlor ich für kurze Zeit mein Bewusstsein. Als ich die Augen aufschlug, stand ich wieder in meiner eigenen Jeans auf der Gondel. Vom Ufer her streckten mir meine Eltern die Hände entgegen und riefen ganz erstaunt: "Was tust du da?" Ich drehte mich dankbar zu dem alten Mann um. Er blinzelte mir mit seinem einen Auge freundlich zu. Ich sagte nur: "Danke!" Dann stieg ich aus ...

Lasse folgende Fragen und Punkte mit in Deine Geschichte einfließen:

  • Was erzählst Du Deinen Eltern?
  • Wie reagieren sie darauf?
  • Siehst Du den Alten noch einmal?
  • Wie versuchst Du Deine Eltern zu überzeugen, nicht an der Besichtigung teilzunehmen?
  • Was antworten Sie darauf?
  • Was träumst Du in der Nacht?
  • Beschreibe ein bisschen die Führung, denkt Dir dazu einfach etwas aus.
  • Beschreibe, wie die Gruppe auf den rieselnden Sand reagiert.
  • Was mögen Deine Eltern denken?

 

 

Ein Beispiel

Die magische Gondel

geschrieben von Charlotte (6. Klasse)

 

Erstes Kapitel

Nebel hing über dem Dorf. Es war zwar erst fünf Uhr, aber die Saatkrähen waren schon in den Lüften und der Postbote auf dem Fahrrad. Ich erwachte davon, dass unser Briefkasten klapperte. Ich sah aus dem Fenster und dann auf meinen Wecker: "Man, muss der früh aufstehen", murmelte ich. "Was is' los?", fragte meine kleine Schwester Lilo verschlafen. "Egal! Penn weiter", sagte ich. Da nuschelte sie schon wieder fast im Halbschlaf: "Ich habe geträumt, der Postbote ist gekommen."

Lilo schlief sofort wieder ein, doch ich konnte nicht mehr schlafen. Also schlich ich mich aus dem Zimmer den Flur entlang, am Zimmer meiner Eltern vorbei zu dem meiner Zwillingsbrüder Marco und Markus. An der Zimmertür meiner großen Schwester Karina blieb ich stehen, denn sie hatte einen leichten Schlaf und wurde normalerweise bei jeder Kleinigkeit wach. Doch hinter der Tür hörte ich nur ihren leisen Atem. Ich ging die knarzende Treppe unseres alten Schwarzwaldhauses hinunter und setzte mich im Wohnzimmer aufs Sofa, um noch etwas zu lesen.

Um halb neun kam mein Vater die Treppe herunter und ging wie gewöhnlich zuerst zum Briefkasten, um die Post und die Zeitung zu holen. Er setzte sich an den Tisch und öffnete einen der Briefe, las ihn mit gerunzelter Stirn und steckte ihn zurück in den Umschlag.

"Was steht in dem Brief?", fragte ich. "Sag ich nicht", antwortete er geheimnisvoll. Da kam auch schon Lilo angerannt. "Sagst du es mir vielleicht?", schrie sie. "Überraschung für heute Abend", erwiderte er mit gedämpfter Stimme. "Was für eine Überraschung? Flüstere sie mir ins Ohr!" "Aber nur, wenn du es nicht verrätst", sagte Vater, und dann flüsterte er ihr das Geheimnis ins Ohr.

Kleine Schwestern können Versprechen meistens nicht so gut halten und so schrie Lilo durchs ganze Haus, so dass es sicher im Nachbardorf noch zu hören war: "Wir fahren in den Herbstferien nach Venedig!" Mein Vater schmunzelte. Er hatte schon gewusst, dass Lilo ihre Versprechen meistens nicht hielt.

Die letzte Schulwochen vergingen wie im Fluge. Marco und Markus gewannen mit ihrer Mannschaft den zweiten Platz bei einem Fußballturnier. Karina musste ein Referat über Uruguay halten, und Lilo beschäftigte sich die ganze Woche damit, ihre Kuscheltiere in einen Koffer zu stopfen, um sie anschließend wieder herauszureißen.

Doch dann war es so weit, wir stiegen morgens um acht Uhr in den Zug, um möglichst früh in Venedig zu sein. Mein Vater erzählte uns, dass immer in den Herbstferien die Regata storica stattfinde. Darum hatte uns Tante Susanna, von der der Brief gewesen war, eingeladen. Sie war der Meinung, dass jeder das wunderbare Spektakel einmal erlebt haben müsse.

Ihr Lieben!
Die Regata storica ist ein Ruderwettkampf. Das Beste ist die Gondelparade vor der eigentlichen Regatta, da müsst ihr dabei sein.

Eure Susanna

Dies war ihr Brief gewesen. Die Fahrt war lang, doch das machte nicht viel, denn die Landschaft war sehr schön. Als wir durch die Schweizer Alpen fuhren, brachte Lilo bei jeder Kuh, die sie sah, das ganze Abteil in Aufruhr. Plötzlich wurde es dunkel, und Lilo hüpfte auf ihrem Sitz auf und ab, guckte und rief laut: "Tunnel, Tunnel, Tunnel!" "Das ist der Gotthardtunnel", sagte ich. "Der was?", fragte Lilo. "Der Gotthardtunnel", wiederholte ich, "der Tunnel durch den Berg, der den Eingang in die Südschweiz verstopft." "Aha", sagte sie, aber ich glaube nicht, dass sie etwas kapiert hatte.

"Das ist mein Haus", sagte Susanna stolz, "direkt am Canal Grande!" Es war ein schönes Haus mit Geranienkästen auf dem Fensterbrett. Es war schon Nachmittag gewesen, als wir aus dem Zug gestiegen waren, und jetzt dämmerte es bereits. Wir aßen vergnügt zu Abend. Dann zeigte Susanna uns die Zimmer, in denen wir schlafen konnten. "Aida, kannst du bitte Lilo die Zähne putzen und sie ins Bett bringen? Ich habe Kopfschmerzen und bin heiser", flüsterte Mama zu mir.

Lilo war beim Zähneputzen immer besonders störrisch. Sie sagte: "Ich will das nicht", und presste die Lippen aufeinander. Als ich sie endlich dazu überredet hatte, den Mund aufzumachen, protestierte sie: "Ich will mir die Zähne aber selber putzen!" Ich seufzte und drückte Lilo die Zahnbürste in die Hand.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Tante Susanna schon aufgestanden und bereitete das Frühstück vor. "Heute findet die Regata storica statt", sagte sie, "und danach wollen wir auf die Piazza San Marco gehen!" "Der Platz heißt genau wie ich", gähnte Marco und setzte sich an den Küchentisch. "Wann fängt die Regatta an?", fragte ich. "Um halb elf", beantwortete Susanna meine Frage. "Wir können also in Ruhe frühstücken. Es ist ja erst neun." Die Zeit bis zu Regatta verbrachten wir mit einem ausgiebigen Frühstück und der ersten Erkundung von der Umgebung.

Kurz vor halb elf stellten wir uns an die Fenster im zweiten Stock, denn unten auf dem Gehweg war kein Platz mehr frei. "Ich will aber von unten schauen", nörgelte Lilo, als die erste Gondel fast lautlos über den Kanal glitt. "Gut, ich gehe mit dir runter", sagte ich und lief die Treppe in den ersten Stock hinunter. Ich war schon fast am Treppenabsatz angelangt, als Susanna mich warnte: "Fallt nur nicht in den Kanal!", sagte sie, "es gibt keine Absperrung." "Wir werden schon aufpassen", sagte Lilo und wir rannten aus dem Haus. Lilo schlug sich durch die Menge, und ich drängelte mich hinterher. Sie hatte einen Platz ganz vorne am Kanal gefunden.

Die Gondeln auf dem Kanal waren alle wunderschön geschmückt und sahen uralt aus. Es waren historische Gondeln aus dem 15. Jahrhundert. Und auch die Gondolieri trugen Kostüme aus dieser Zeit. Eine rote Gondel fuhr ganz nah an den Zuschauern vorbei, direkt vor mir blieb sie stehen. Die Gondel steuerte ein alter Mann, der ebenfalls in Rot gekleidet war und über dem rechten Auge eine Binde trug. Die Gondel zog mich wie ein Magnet an. Als der Gondoliere mir mit einer Geste zu verstehen gab, dass ich einsteigen solle, wollte ich das auch sofort. Lilo schrie: "Aida, was machst du da?", und versuchte mich festzuhalten. Doch ich stieß sie von mir, so dass sie gegen eine alte Dame taumelte, die daraufhin zu schimpfen anfing. Ich jedoch stieg ein. Es ertönte ein lauter Knall. Und ich verlor das Bewusstsein.

 

Zweites Kapitel

Ich lag auf dem Boden der Gondel, als ich die Augen aufschlug. Ich hörte die gleichen Geräusche, wie vor dem Knall: das Kreischen der Möwen, das leise Plätschern des Wassers und das Jubeln der Menge. Und doch spürte ich, dass etwas anders war. Als ich mich aufsetzen wollte, drückte der Mann mit der Augenbinde mich zu Boden. "Die Menge darf dich nicht sehen", flüsterte er mir auf Italienisch zu. Ich verstand ihn sofort, was mich ebenfalls erstaunte, weil ich kaum ein Wort von dieser Sprache beherrschte. Aber was war plötzlich mit der Menge los? Sie war genauso altertümlich gekleideten, wie die Gondolieri. Ich war so durcheinander, dass ich zunächst kein Wort heraus bekam.

Als wir einen Teil der Stadt erreichten, wo weniger Menschen am Rand standen, bog der Einäugige in einen kleinen Kanal ein. Sehr oft waren wir immer wieder eingebogen. Zunächst hatte ich versucht mir den Weg zu merken, doch als die Gondel nach endloser Fahrt vor einem Haus am Rande Venedigs hielt, hatte ich es längst aufgegeben.

Vom Boot aus öffnete der Gondoliere eine Flügeltür. Dahinter lag eine Art Fahrzeugschuppen für Gondeln. Er band die Gondel fest und stieg aus, dann ging er, ohne ein Wort zu sagen, davon. Ich beeilte mich, ihm zu folgen. Er ging durch die Küche in den ersten Stock, wo er sich bei einem kargen Mahl niederließ. Mir gab er mit einer freundlichen Handbewegung zu verstehen, dass ich mich hinsetzen und speisen sollte. Nach dem Essen führte er mich in ein kleines Zimmer, in dem ein Sessel und ein Sofa stand. Er ließ sich auf dem Sessel nieder, während ich mich auf das Sofa setzte.

"Also", sagte er. "Ich möchte dir einige deiner Fragen, die dich sicher verwirren, beantworten. Du hast dich bestimmt gefragt, warum alle Leute altmodische Kleidung tragen, nur du nicht, stimmt's?" "Ja", sagte ich und nickte bestätigend mit dem Kopf. "Wir haben eine Zeitreise unternommen und du befindest dich jetzt im Jahre 1480." Er räusperte sich. "In deiner Gegenwart wird in zwei Tagen ein großes Unglück geschehen. Durch die Zeitreise kannst du es verhindern", sagte er bedeutungsvoll. "Was ist das für ein Unglück, und was kann ich tun, um es zu verhindern?", fragte ich. "Dies will ich dir erst morgen erzählen. Du kannst hier niemandem von deiner Zeitreise erzählen. Es ist wie eine Sperre, die sich vor deinen Mund legt, wenn du davon berichten willst. Ebenso wenig kannst du Wörter aussprechen, die es in dieser Zeit noch nicht gibt", klärte er mich auf.

Ich probierte es gleich aus, ich versuchte 'Auto' zu sagen. Stattdessen kam 'Gondel' aus meinem Mund. "Siehst du", meinte er. "Ich stelle dir auch noch ein Boot zur Verfügung, mit dem du Venedig erkunden kannst", sagte er und verließ den Raum. Nach einer Weile kam er mit einer braunen Hose, einer ebenso braunen Kappe und einem himmelblauen Hemd aus festem Stoff zurück. "Ich kann dir leider nur Jungenkleider geben, denn Mädchen dürfen nicht alleine Boot fahren."Er reichte mir die Kleider. Als ich mich umgezogen und mein Haar unter der Kappe untergebracht hatte, zeigte er mir ein kleines Ruderboot. Ich zögerte nicht lange und fuhr gleich damit los.

Als ich in einen Kanal mit vielen Läden und Menschen einbog, ruderte ich näher an den Gehweg heran, um mir ein wenig das Gedränge anzusehen. Es lag ein Gesumme von "Ahs" und "Ohs" in der Luft. Da kam plötzlich ein Junge auf mich zugerannt: "Hast du ein schönes Boot! Sagst du mir, wie du heißt?", fragte er. "Ä....ähm", ich überlegte fieberhaft. "Lorenzo", sagte ich. "Ich heiße Piero", sagte er. Piero hatte anscheinend nicht bemerkt, dass ich lange hatte überlegen müssen, bevor ich ihm meinen Namen nannte. "Kann ich mitfahren?", fragte er. "Na klar!", antwortete ich. "Wohin willst du?" "Egal."

Als es fünf Uhr war, sagte Piero, er müsse jetzt nach Hause. "Aber ich bin morgen Früh auf dem Markusplatz, Gebäck verkaufen. Da kannst du ja auch hinkommen, falls du Lust hast", sagte er. "Mach ich", sagte ich und fuhr durch die kleinen Kanäle davon. Es dauerte noch eine halbe Stunde, schätzte ich, bis ich zurück zum Haus des einäugigen Gondoliere gefunden hatte. Er erwartete mich schon. Als wir schweigend zu Abend gegessen hatten, zeigte er mir mein Zimmer.

Es dauerte lange bis ich einschlafen konnte. Ich wälzte mich in dem quietschenden Bett hin und her und hin und her. Genauso, wie die Fragen, die mir durch den Kopf wanderten: hin und her und hin und her. Langsam nahmen die Fragen Gestalt an: die eines großen Geistes, dann die einer Maus. Manche Fragen ähnelten meiner Mutter und manche dem einäugigen Gondoliere, aber das war wohl ein Traum.

 

Drittes Kapitel

Als ich erwachte, war es draußen schon hell. In der Ferne hörte ich Türen schlagen, dann das Klappern von Glastellern und das Geräusch von harten Holzschuhen auf einem Marmorboden. Ich kroch unter meiner Decke hervor und zog mich an. Als ich ins Esszimmer kam, war kein Mensch zu sehen. Der Tisch war gedeckt und ein Zettel war mit einem Küchenmesser an die Tischplatte gepinnt. Ich zog das Messer aus dem Tisch und faltete den Zettel auseinander. Das Papier knisterte zwischen meinen Fingern.

Guten Morgen Aida!
Morgen in deiner Zeit werden deine Eltern die Markuskirche besichtigen. Während dieser Besichtigung wird der Schlussstein eines Deckenbogens herausbrechen. Das ganze Dach wird einstürzen und alle Touristen unter sich begraben. Morgen um zwei Uhr in der Zeit, in der du dich jetzt befindest, wird genau dieser Stein gesetzt. Die Kirche befindet sich gerade im Bau. Finde heraus, was falsch gemacht werden wird und verhindere es. Wenn du nichts änderst, wird das Dach deine Familie erschlagen.

"Das wird ja immer schöner", murmelte ich, und setzte mich vor lauter Erstaunen erst mal hin. Nachdem ich flink gefrühstückt hatte, bestieg ich sofort das Ruderboot, um zum Markusplatz zu fahren. Doch das entpuppte sich als gar nicht so einfach. "Können Sie mir sagen, wo es zum Markusplatz geht?", fragte ich ein elegant gekleidetes Mädchen. Sie blickte mich nur einmal herablassend an und stolzierte weiter. Als nächstes fragte ich einen kleinen Jungen, der auf meine Frage hin anfing zu zittern und dann davonrannte. Bei einer älteren, einfach gekleideten Frau erhielt ich endlich Auskunft: "Du musst bis zum Ende des Kanals fahren, und dann bist du eigentlich schon da!"

Am besagten Ende des Kanals musste ich jedoch wieder fragen. "Fahre mir einfach hinterher", sagte ein Fischer, der gerade in sein Boot stieg, "ich muss auch zu Markusplatz." Nach kurzer Fahrt hielt das Fischerboot. "Dort ist er." Der Fischer wies auf einen riesigen, nicht übersehbaren Platz. Ich vertäute mein Boot und stieg aus. Die Markuskirche war eingerüstet. Sie stand kurz vor ihrer Vollendung.

Nachdem ich mir eine Weile die Kirche angesehen hatte, begann ich Piero zu suchen. Ich musste nicht lange suchen, bis ich ihn fand, denn er stand mitten auf dem Platz und brüllte: "Leckeres Gebäck, wunderbares Gebäck, frisches Gebäck!" Es war nur noch sehr wenig Gebäck übrig in Pieros Korb, und als das verkauft war, fragte er mich, was wir machen sollten.

Erst sahen wir ein wenig den Bauarbeitern an der Kirche zu. Der Lärm auf dem Platz hörte sich an wie eine seltsame Melodie: das Hämmern und Klopfen der Bauarbeiter, das Schreien der Marktschreier und das Rufen spielender Kinder. Mir gefiel das rege Treiben. Da hatte ich eine wunderbare Idee: "Wir könnten doch fragen, ob wir beim Bau der Kirche helfen können", schlug ich vor. Zu meiner Verwunderung war Piero begeistert. "Ja! Über ein bisschen Nebenverdienst wird sich meine Mutter sicher freuen."

Wir fragten einen der vorübergehenden Baumeister, der zustimmte und uns sofort zum Mörtelmischen einteilte. "Wenn ihr heute und morgen von zwölf bis sechs Uhr Mörtel mischt, bekommt jeder von euch einen Dukaten." Pieros Augen wurden größer und immer größer. "Mann, so viel?", fragte er. "Ja", nickte der Baumeister, "wir suchen dringend Arbeiter, denn die Kirche muss fertig werden."

Ein Lehrling erklärte uns: "Wenn man zu wenig Kalk in den Mörtel mischt, wird er auf Dauer bröckelig und Steine können aus der Mauer brechen!" Derselbe Lehrling mischte uns Kalk, Sand und Wasser, so dass wir ihn nur noch rühren mussten. Für das richtige Verhältnis benutzte er eine Steintafel, auf der stand, wie viel er jeweils nehmen musste. Mir fiel jedoch auf, dass er immer nur einen halben Eimer Kalk, statt, wie es auf der Tafel stand, einen ganzen nahm.

Um sechs Uhr taten meine Arme so weh, dass ich glaubte, nie wieder auch nur einen Kieselstein halten zu können. Als wir im Boot saßen, fragte ich Piero: "Hast du bemerkt, dass der Lehrling immer zu wenig Kalk in den Mörtel gemischt hat?" "Nein, habe ich nicht bemerkt." "Morgen werden die Schlusssteine gesetzt, und wenn in 500 Jahren der Mörtel bröckelt, wird eines Tages dem Pfarrer das gesamte Dach auf die Rübe fliegen. Liegt dir was daran, dass das nicht geschieht?", fragte ich Piero.

"Das darf auf keinen Fall passieren. Die Kirche muss erhalten bleiben!", antwortete er. "Also gut! Dann höre meinen Plan: Wir müssen irgendwo einen halben Eimer Kalk herbekommen. Am besten wir füllen ihn heute Nacht bei der Baustelle in kleine Säcke ab. Morgen geben wir ihn dann beim Anrühren des Mörtels heimlich dazu. Gut?", fragte ich. "Aber das ist doch Diebstahl!" Ich spürte deutlich, dass er ein schlechtes Gewissen hatte. "Ach komm, es ist zum Wohle der Kirche." "Wenn du meinst." "Wann treffen wir uns?" Ich wurde langsam ungeduldig. "Um Mitternacht?", hoffentlich wartete der Einäugige nicht schon auf mich. "Gut! Dann bis zur Geisterstunde", flüsterte Piero unternehmungslustig.

 

Viertes Kapitel

Um halb zwölf in der Nacht schlich ich mich aus dem Haus. Die Tür des Gondelschuppens quietschte ganz fürchterlich, als ich sie aufstieß. Ich hatte gedacht, dass ich den Weg gleich finden würde, aber ich musste doch eine Weile suchen. Bei Nacht sah Venedig ganz anders aus. Es war gespenstisch still, nur das leise Klatschen der Wellen gegen die Hauswände war zu hören.

Um Punkt zwölf stand ich auf dem Markusplatz. Keine Menschenseele war zu sehen. Ich lehnte mich gegen eine Hauswand und lauschte in die Dunkelheit. Erst hörte ich nichts, doch dann war da das leise Tappen nackter Füße auf dem Pflaster, es kam näher und näher. Dann lugte Piero um eine Hausecke. "Hallo Lorenzo", rief er, während er auf mich zusteuerte. "Sei doch still", zischte ich, "vielleicht haben sie Wachen aufgestellt." "Doch keine Wachen, was redest du da." Ich sollte jedoch Recht behalten.

"Hast du die Säckchen?", fragte ich flüsternd. "Klar!" Er hielt es immer noch nicht für nötig, zu flüstern. "Also dann, an die Arbeit!" Als wir das erste Säckchen gefüllt hatten, kam ein laut pfeifender Wachposten um eine der Kirchenecken geschlendert.

Ich blickte mich hektisch nach einem geeigneten Versteck um. Mein Blick fiel auf ein paar aufeinander gestapelte Holzkisten, in deren Schatten man sich leicht verstecken konnte. Ich zog den vor Schreck erstarrten Piero hinter die Kisten. "Warum pfeift der so laut?", fragte ich Piero leise. "Um die Geister fernzuhalten", antwortete er. "Ah", sagte ich. Wir saßen sehr lange hinter den Kisten in der Dunkelheit. Der Wachposten hatte es sich bei Kerzenlicht und einer Flasche Wein gemütlich gemacht. Als der Wachposten, vom Wein schläfrig geworden, friedlich schnarchte, waren auch Piero und ich fast eingeschlafen. Wir füllten die drei weiteren Säckchen und stopften sie in unsere Hosentaschen. Wir wollten uns gerade stillschweigend davonmachen, als ich mit dem Fuß gegen einen der Tonkrüge, mit denen wir das Wasser für den Mörtel aus dem Kanal geholt hatten, stieß. Er fiel um und rollte mit lautem Gepolter über den Platz. Der Wachposten schreckte aus dem Schlaf. "Was macht ihr denn hier?", fragte der Posten aufgeschreckt. Es herrschte peinliche Stille. "Äh, der Bauleiter hat uns geschickt, Ihr sollt sofort zu ihm kommen!", log Piero. Die Wache kaufte ihm die Geschichte jedoch ab und trottete davon.

"Komm, wir spionieren ihm nach", sagte ich. "Au ja", erwiderte Piero leise. Die Wache ging ins Haus des Bauleiters. Kurz darauf flackerte hinter einem der Fenster eine Kerze auf. "Ich soll dich gerufen haben?", schrie eine sehr aufgebrachte Männerstimme. "Und wer hat das gesagt?" Pause "Ein paar Kinder? Ich glaube ich spinne!" Wir hatten genug gehört und ruderten lachend um die nächste Ecke.

"Das ist der Mörtel für die Schlusssteine! Den müsst ihr besonders gut rühren", sagte der Lehrling und maß einen halben Eimer Kalk ab. Dann ging er. In einem unbeobachteten Moment entleerte Piero das erste Säckchen. Als ich dann das vierte und letzte Säckchen in den Mörtel mischte, kam der Baumeister zu uns herüber: "Habt ihr da was in den Mörtel getan?" "Nein, warum sollten wir?" Ich lächelte den Baumeister unschuldig an. "Gut! Es hätte unangenehme Folgen für euch gehabt", sagte er und schlenderte weiter.

Wir sahen bei der Setzung der Schlusssteine zu und streiften dann durch Venedig. Als wir am Rathaus auf die Uhr schauten, fiel es mir wieder ein: Der Einäugige hatte gesagt, dass ich nur um Punkt vier Uhr wieder in meine Zeit zurück könne und es waren nur noch zehn Minuten bis dahin. "Ich muss jetzt gehen, ich habe noch was vor", erklärte ich Piero. "Was hast du vor?", hakte er nach. "Erzähl ich dir ein anderes Mal", erwiderte ich und rannte davon. Piero jedoch folgte mir.

Ich rempelte einen alten Mann an, rannte in das elegante Mädchen, das mir den Weg zum Marktplatz nicht hatte zeigen wollen und zum Schluss fiel ich beinahe in einen Kanal. Als ich nach langem Rennen keuchend zum Haus des Gondoliere kam, wartete der schon an der roten Gondel. "Da kommst du ja, ich dachte schon, du wolltest hierbleiben", lachte der Gondoliere. "Hab mich umentschieden", scherzte ich. Piero tauchte hinter mir auf, er keuchte laut. "Wer bist denn du?", fragte der Einäugige. "Ich wollte wissen, was Lorenzo vorhat." "Lorenza", verbesserte ich und riss mir die Kappe vom Kopf. Ich winkte Piero noch einmal zu und stieg ein. Es ertönte ein lauter Knall. Und ich verlor das Bewusstsein.

 

Fünftes Kapitel

Ich stand neben Lilo ganz vorne am Canal Grande. Es war, als hätte ich nur geblinzelt. Die Ruder klatschten auf das Wasser, die rote Gondel war nicht zu sehen. Die Menge jubelte. "Schau mal, die Gondel sieht ja toll aus", Lilo quietschte vor Begeisterung, "da würde ich gerne drin sitzen!" "Stimmt, die sieht wirklich toll aus", sagte ich noch etwas benommen. Nachdem noch etwa 20 weitere Gondeln von Lilo als schön ausgezeichnet wurden, tauchte Susanna hinter uns auf. "Kommt schnell, bevor die Parade zu Ende ist. Da sind die kleinen Kanäle noch nicht so überfüllt." Wir folgten ihr durch die Menge, den überlaufenen Bürgersteig entlang bis zu ihrem Bootsschuppen. Jetzt stiegen alle in ihr nagelneues Motorboot.

"Ich will lenken!", schrie Lilo und hüpfte ins Boot, so dass es fast kenterte. "Ich lenke aber schon", sagte Marco und drängte sie vom Lenkrad weg. "Du kannst doch auf dem Rückweg lenken", quengelte Lilo. "Meine Güte, fahrt du halt, wenn es dich glücklich macht." Marco gab einfach zu schnell auf. Und so fuhren wir von Lilo gelenkt mit Vollgas und im Zickzack zum Markusplatz.

"Die ist aber groß", Karina war von jeder Kirche begeistert. Mama und Papa ließen sich von einem deutsch sprechenden Führer die Kirche zeigen. Karina, Marco und Markus suchten vergeblich die Krypta. Lilo spielte mit mir Verstecken, allerdings spielte ich nicht mit ihr, denn ich blickte immer wieder besorgt zur Decke. Gerade als der Führer darauf hinwies, dass das Dach der Kirche zusammenbrechen würde, wenn die Schlusssteine nicht hielten, rieselte eine Staubfahne Sand vom Gewölbe. Der Führer bemerkte es nicht, meine Eltern auch nicht. Nur Lilo und ich. Aber nichts passierte.

"Lilo, ich erzähle dir heute Abend eine wahre Geschichte. Einverstanden?" Ich war mir sicher, dass Lilo mir die Geschichte glauben würde. "Au Ja, ich liebe wahre Geschichten!" Und jetzt, nachdem die Kirche nicht eingestürzt war, würde die Geschichte auch ein gutes Ende haben.

"Ich bringe Lilo heute ins Bett", erklärte ich Mama. "Seit wann bringst du freiwillig deine kleine Schwester ins Bett?", Mama runzelte die Stirn. "Ich bin nicht klein", protestierte Lilo. Diesmal presste sie nicht die Lippen beim Zähneputzen aufeinander. Ebenso brav ließ sie sich ins Bett bringen.

Als wir beide im Bett lagen, begann ich zu erzählen: "Es war einmal ein Mädchen namens Aida, das hatte eine kleine Schwester, die hieß Lilo ..." Ich erzählte ihr von dem einäugigen Gondoliere, der Zeitreise, von Lorenzo und dem Lehrling, der zu wenig Kalk in den Mörtel gemacht hatte und davon, wie ich so das Leben vieler Menschen gerettet hatte.  ".... so lebten sie glücklich bis an ihr Lebensende!"

"Das ist eine schöne Geschichte", Lilo klang schon sehr müde. "Die Geschichte ist schön, du sollst sie für mich aufschreiben und mir als kleines Buch zu Weihnachten schenken", sagte Lilo, "und sie soll heißen ..." es gab eine lange Pause dann sagte Lilo ganz langsam: "Die magische Gondel."

Ihr Kommentar