Tom Sawyer: Vom Streichen des Gartenzaunes

Als Tom vorsichtig durchs Fenster klettern wollte, stieß er auf ein Hindernis, das die Gestalt seiner Tante hatte und sobald sie den Zustand seiner Kleider wahrgenommen hatte, reifte ihr Entschluss, die Freiheit des Samstagnachmittags in eine Gefangenschaft mit schwerer Arbeit zu verwandeln, zu eiserner Festigkeit.

Am Morgen also erschien Tom auf der Bildfläche. In der einen Hand trug er einen Eimer voll Tünche, in der anderen einen langen Pinsel. Fünfzehn Meter Zaunbreite und neun Fuß Höhe! Fürwahr, das Leben war öde und das Dasein eine Last!

In diesem düsteren, hoffnungslosen Augen­blick kam ihm plötzlich ein Einfall - ein großer, wahrhaft glänzender Einfall! Er nahm seinen Pinsel auf und machte sich still und emsig an die Arbeit, denn dahinten sah er Ben auftauchen, gerade den, dessen Spott er am allermeisten fürchtete. Hopsend und springend näherte sich Ben, ein Beweis, dass er leichten Herzens und voll hochgespannter Erwartungen war. Er verspeiste einen Ap­fel. Tom pinselte unerschütterlich weiter, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Ben hielt einen Augenblick ver­wundert an, dann grinste er und sagte: »Aha! Strafe, he?« Keine Antwort. Tom prüfte seinen letzten Strich mit dem Auge eines Künstlers, dann fuhr er mit dem Pinsel noch einmal elegant darüber hin und begutachtete mit ebenso kritischem Blick das Resultat von neuem. Ben pflanzte sich neben ihm auf. Tom lief das Wasser im Mund zusammen beim Anblick des Apfels, aber er schien ganz vertieft in seine Arbeit.

»Hallo, alter Junge! Musst wohl heute fest ran, was?« »Ach, du bist's, Ben! Ich hab dich gar nicht bemerkt.« »Du, ich geh schwimmen! Willst du mit? Ach nee, du arbeitest ja lieber, was? Kann mir's lebhaft vorstellen!«

Tom sah erstaunt auf. »Was verstehst du eigentlich unter arbeiten?« »Na, ist das vielleicht keine Arbeit?« Tom tauchte seinen Pinsel ein und sagte beiläufig: »Viel­leicht ist's 'ne Arbeit, vielleicht auch nicht! Ich weiß nur, dass es mir Spaß macht!« »Nanu, du willst mir doch wohl nicht einreden, dass du's zum Vergnügen tust ?« Der Pinsel war ununterbrochen in Bewegung. »Zum Vergnügen? Ja, warum denn nicht? Meinst du vielleicht, 's gibt jeden Tag so 'nen Zaun anzustreichen?«

Das ließ die Sache allerdings in einem ganz anderen Licht erscheinen. Ben hörte auf an seinem Apfel zu knab­bern, und Tom fuhr unterdessen mit seinem Pinsel schwungvoll auf und nieder, trat von Zeit zu Zeit zurück, um die Wirkung zu prüfen, tupfte hier und da verbessernd nach, betrachtete den Eindruck von neuem, während Ben kein Auge von ihm ließ und alle seine Bewegungen mit fieberhaftem Interesse verfolgte. Endlich sagte er: »Du, lass mich doch mal 'n bisschen streichen.«

Tom schien zu überlegen und nachgeben zu wollen, aber dann sagte er: »Nee, nee, 's geht nicht, Ben. Guck mal, Tante Polly ist furchtbar mit diesem Zaun - so direkt an der Straße, weißt du. Wirklich, du glaubst gar nicht, wie sie sich mit dem Zaun hat! Und 's ist verteufelt schwer, es richtig zu machen! Ich wett, dass unter  tausend Jungs, was sag ich, unter zweitausend vielleicht, nicht einer ist, der's richtig machen kann.«

»Wirklich? Och du, lass mich doch bloß mal probieren! Nur 'n ganz kleines Stückchen! Ich würd dich auch streichen las­sen, wenn ich du wärst.«

»Ben, ich würd's ja gern tun, Ehrenwort. Aber guck mal, Tante Polly ... Jim wollt's schon machen und Sid auch, aber sie hat's absolut nicht erlaubt. Du musst doch verste­hen, dass ich die Verantwortung hab. Wenn du nun den Zaun anmalst und 's passiert was dran und ...«

»Ach Quatsch! Ich kann's genauso gut wie du! Na los, lass mich's mal versuchen! Hier, du kriegst auch das Kern­haus von meinem Apfel, guck; ist noch 'ne ganze Masse dran.« »Na also ... nee, Ben, lieber nicht, ich hab Angst...« »Ich geb dir 'nen ganzen Apfel ...«

Da reichte Tom ihm den Pinsel hin, Widerstreben im Antlitz, Frohlocken im Herzen. Und während Ben  schweißtrie­fend drauflospinselte, saß der vom Schauplatz abgetretene Künstler behaglich im Schatten auf einer Tonne, schlen­kerte mit den Beinen, verzehrte mit Appetit seinen Apfel und spann listige Pläne, wie er noch mehr Opfer in die Falle locken könne.

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