Wissen die Bienen, wenn eine von ihnen stirbt?
Die kleine Biene Sonnenstrahl und ein Ausflug (Christina Singer, Freie Waldorfschule Freiburg St. Georgen)
In einer 2. Klasse, in der ich das Soziale besonders pflegen wollte, traf die Erzählung Die kleine Biene Sonnenstrahl von Jakob Streit ins Schwarze: Das emsige, friedliche und wohlorganisierte Leben der Bienen begeisterte die Kinder jeden Tag aufs Neue. Allein die Beschreibung der Bienenstadt mit ihren verschiedenen Kammern und dem streng bewachten Eingangsbereich verfolgten die Kinder fasziniert. Wie beeindruckt waren sie, als deutlich wurde, dass jede Biene ihre feste Aufgabe hat, die sie verantwortungsvoll ausführt. Und wie fieberten sie mit, als Biene Sonnenstrahl den unzähligen Gefahren und Feinden begegnete, vor denen sich die Bienen in Acht nehmen müssen.
Die Erzählung über das arbeitsame Leben der Bienen ist vom Sprachstil her eigentlich für ältere Kindergartenkinder geeignet. Um sie den Achtjährigen anzupassen, dramatisierte ich die Erzählung, indem ich die direkte Rede stimmlich ausgestaltete und so die Charaktere der Figuren deutlicher herausarbeitete.
Jakob Streit erzählt hier eine Geschichte über das fleißige Arbeiten, über die Verantwortung, die jeder für sein Tun hat, über die Wichtigkeit von guter Organisation in komplexen Arbeitszusammenhängen, über das friedliche Miteinander und sorgende Füreinander und vieles mehr. Die Hauptfiguren – die Bienen Abelia, Sonja und die kleine Bienen Sonnenstrahl – aber auch die strengen Wächter und die Königin selbst sind Charaktere, mit denen sich die Kinder mühelos verbinden können.
Als wir die Geschichte zu Ende gehört hatten – ich hatte sie bewusst nicht in eigenen Worten nacherzählt, sondern in der schönen Sprache Jakob Streits vorgelesen – machten wir einen Ausflug zu einer Schulfamilie und ihren Bienen.
Mit ihren wachen Sinnen und sensibilisiert durch die Erzählung konnten die Kinder sehr viel sehen, als die Imkerin einzelne Rähmchen aus dem Bienenkasten zog: Die Pollenhöschen, gelbe und rötliche, die Honigtöpfchen und die Töpfchen mit gelbem und orangefarbenen Blütenstaub, die unterschiedlichen Deckel auf den Waben, je nachdem, ob dort Honig gelagert wird oder Brut heranwächst. Eine Biene tat uns den gefallen, vor unseren Augen zu schlüpfen. Auch entdeckten wir Bienen, die gerade erst geschlüpft und daher noch etwas verstrubbelt und wackelig auf den Beinen waren.
Besondere Aufmerksamkeit erregten die Deckel der Drohnenbrut, die auffällig gewölbt waren. Über die Drohnen hatte uns die Erzählung nichts verraten, umso spannender war es, diese friedlichen und behäbigen Bienenmännchen selbst zu entdecken – und auf die Hand zu nehmen: sie haben ja keinen Stachel! Dass sie nicht arbeiten, sondern sich durchfüttern lassen, schien den Kindern unverständlich. So las ich am Folgetag das Kapitel Der Sonnenflug aus Jakob Streits Bienenbuch vor. Dieses Buch richtet sich eher an etwas ältere Kinder, aber das Kapitel über den Hochzeitsflug der Königin, auf dem sie von den Drohnen begleitet wird und denjenigen zum Bienenkönig macht, der sich mit ihr am höchsten hinaufwagt, passte gut als Ergänzung zur Kleinen Biene Sonnenstrahl.
Wie intensiv sich manches Kind mit der Geschichte verbunden hatte, wurde an ihren Fragen deutlich. „Wissen die Bienen, wenn eine von ihnen stirbt?“ fragte ein Junge, als er eine verletzte Biene entdeckte. „Nein“, antwortete die Imkerin, „aber sie wissen, wenn der Königin etwas zugestoßen ist.“ Was mag der Junge dabei gefühlt haben? Wahrscheinlich ein gewisses Bedauern. Aber vielleicht auch die leise Ahnung, dass das Bienenvolk eigentlich ein Organismus ist, der Bien, und die Königin sein Herz.