Die Wegwarte

Ein Pflanzenmärchen von Michael Bauer

Fern der Stadt und dem lauten Getriebe der Welt, nahe dem stillen Wald, lag ein kleines Dörfchen. Selten kam ein Fremder dahin und die Leute der wenigen Gehöfte hielten deswegen treuere Nach­barschaft als anderswo. Auch die Kinder dieses Dörfchens wuchsen inniger zusammen, als in großen Orten, wo es viele Gespielen gibt. Nun waren dort einmal ein Knabe und ein Mäd­chen. Die waren gleichen Alters und von kleinauf einander herzlich gut. Als wären sie Bruder und Schwester, so viel und oft sah man sie zusammen; bei Spiel und Arbeit. In wandelloser glücklicher Freundschaft vergingen ihre Kinderjahre. Das erste herbe Leid traf sie, als der Knabe hinaus in die Welt musste. Sein Vater hatte noch andere Söhne und war nicht reich. Auch hatte er nicht genug Arbeit für sie alle und darum sollte dieser eine Knabe fort in die Stadt, um ein Handwerk zu lernen. Wenn man den Weg neben den Weiden­bäumen immer talabwärts ging, kam man auf die große Heerstraße, die schließlich zur Stadt führte. Dorthin musste der Knabe gehen, als er vierzehn Jahre alt war. Es war eine schwere Scheidestunde für alle, aber am allerschwersten für den Knaben und das Mädchen. Wäre nicht ein froher Ausblick auf ein Wiedersehn nach einem Jahre der Tren­nung gewesen, so hätten ihnen die Herzen zer­springen mögen vor bitterem Weh. Es war so ausgemacht worden mit dem Meister, zu dem er in die Lehre kam, dass er jedes Jahr ein­mal auf ein paar Tage in die Heimat gehen dürfe. Im Frühling, um die Zeit, wo die Apfelbäume blühen, sollte das sein. - Ach, das waren immer ein paar selige Tage! Und des Erzählens war kein Ende. Als er das sechste Mal in die Heimat zurückkam - die Lehrzeit dauerte damals für manche Gewerbe gar lang -, war er Geselle. Nach der Sitte der Zeit musste er nun auf die Wanderschaft. Bei diesem Abschied versprach der Jüngling dem Mädchen feierlich in die Hand: Nach drei Jahren kannst du mich erwarten! Ob ich Glück gehabt und Meister werden kann, oder ob ich kommen muss als armer fahrender Gesell - nach drei Jahren kannst du mich erwarten! Und um dieselbe Zeit zur Apfelblüte, ganz wie heute!" Bis zum Kreuz­weg gab sie ihm das Geleit. Als er ein Stück talab gewandert war, hielt er an und blickte zurück. Das Mädchen stand noch immer an der gleichen Stelle, wo sie sich getrennt hatten, aber es sah doch keins das andere. So sehr mussten beide weinen.

Dreimal war es dann Winter geworden, ohne dass die geringste Kunde von ihm kam. Aber Sorge statt Kunde war gekommen. Man erzählte, dass draußen Krieg geworden sei und dass viele Burschen sich an­werben ließen um mit in den Krieg zu ziehen. Voll unbeschreiblicher Sehnsucht erwartete dann das Mädchen den dritten Frühling. Die Weiden­bäume am Wege trugen endlich ihre Kätzchen. Die Stare kamen zurück, schlugen mit den Flügeln vor Freude und zwitscherten.

Auf der Hutwiese vor dem Dorf blühten schon die Schlüsselblumen und die feinen blauen Enziane. Die Knospen am Apfelbaum aber taten noch als schliefen sie. Eine verzehrende Unruhe zog in die Brust des Mädchens ein. Sie war traurig zum Weinen und wusste doch nicht warum. Tag um Tag ging sie ein Stück den Weg zu Tal. Nach einem war­men Regen im Mai sprangen auch die Knos­pen am Apfelbaum. Ein selten reiches Blüten­jahr war es und der Baum leuchtete mit ro­sigem Schein.

An diesem Sonntag war das Mädchen über eine Stunde weit gewandert bis zur Heerstra­ße hinab. Dort war sie sitzen geblieben und hatte gewartet. Bis zur sinkenden Sonne. Am folgenden Sonntag blühte der Apfelbaum wohl immer noch. Aber schon viele der rosi­gen Blütenblättchen waren abgefallen und lagen welk auf schwarzem Gartengrund. Wie­der war das Mädchen zur Heerstraße gewan­dert und hatte den schönen hellen Tag ver­wartet und verweint. Als sie nach Hause kam und die Mutter sie zu trösten versuchte, ant­wortete sie in irrer Rede. Von nun an kannte sie kein ander Tagwerk mehr, als zur Heer­straße zu gehen und zu weinen. Tag um Tag, Woche um Woche. Auch nachts wanderte sie ruhelos umher und oft sang sie ein schwer­mütiges Lied, von dem niemand wusste, wo­her sie's gelernt.

Jeder Vers schloss mit den Zeilen:

„Eh ich lass das Weinen stehn,
Will ich lieber an die Heerstraß' gehn,
Warten auf der Erden
und zur Feldblum' werden."

Und Gott erbarmte sich ihrer. Einmal - es war in­zwischen ganz Sommer geworden - kam sie nimmer heim. Man ging an den Platz, wo sie seit Wochen gesessen und gewartet hatte, und man fand sie nicht. Aber eine Blume war an der Stelle gewachsen mit großen lichtblauen Blüten, die wie wartende Augen ins Weite blickten. Wegewarte stand am Wege.