Der Kranich und der Wolf

Der Vers beginnt, wie manche Fabel,
Geschichte, Märchen und Parabel:
Vor langer Zeit, da saß einmal
ein gier’ger Wolf vor seinem Mahl.
Es war ein Lamm, das er gejagt,
und nun verendet vor ihm lag,
und das er gierig ohne Rast
hinunterschlang in größter Hast
aus Angst, dass er würd’ teilen müssen,
wenn erst vom Mahl die Brüder wüssten.
Er kaute, schluckte, würgte, schmatzte,
so dass sein praller Bauch schier platzte.
Doch plötzlich blieb, zu seinem Schrecken,
ein Knochen quer im Halse stecken,
der weder vor- noch rückwärts gleitet
und ihm den größten Schmerz bereitet.

Der Wolf nun, dem Ersticken nah,
sich wandte an der Tiere Schar:
„Wer,“ röchelt er mit schwachem Atem,
„hilft mir und zieht den Knochen raus?
Ihn soll der größte Lohn erwarten,
ja, all mein Gold trägt er nach Haus.
Ich schwör’ ihm ew’ge Bruderschaft!“
So rief der Wolf mit letzter Kraft.

Vertrauend auf des Wolfes Eid,
zeigt nur der Kranich großen Schneid
und wagt, doch ist’s ihm nicht zum Lachen,
den Kopf tief in des Wolfes Rachen
und zieht mit Müh’, Geschick und Plag
den Knochen glücklich an den Tag,
half so dem Wolf aus größter Not,
bewahrt’ ihn vor dem sichren Tod.

Befreit von solcher Not und Pein,
trabt nun der Wolf tief atmend heim
und lässt den Kranich grußlos steh’n,
ohn’ sich auch einmal umzudreh’n,
ja, nicht einmal ein Dankeswort
gibt ihm der Wolf an diesem Ort.

„Freund Wolf“, rief ihm der Kranich nach,
„wo bleibt der Lohn, den du versprachst?“
„Den hast du,“ sprach der Wolf verhalten,
„im Übermaße schon erhalten!
Denn du kannst mir mit Zittern danken,
dass still ich hielt, kam nicht ins Schwanken,
dir abzubeißen Kopf und Kragen,
als du mich derart tatest plagen
mit deinem scharfen, spitzen Mund
und mir zerrissest Zung’ und Schlund.
So mach dich fort, du Nimmersatt,
sonst bleibt dein Hals nicht länger glatt!
Schon knurrt mir fast der Magen wieder,
seh’ ich dich, Fettwanst, im Gefieder.“

Da eilte fort der Kranich schnell
und wünscht den Wolf zur tiefsten Höll’
und sprach, nun weiser, voller Hohn:
„Ja, Undank ist der Welten Lohn!“

Hans Harress