Die Entstehung des Diamanten

Bis zum neunten Lebensjahr ist das Kind noch tief mit seiner Umwelt verbunden und sieht sich noch nicht von ihr getrennt. Und doch soll das Kind ein Verständnis für die Welt, für Tiere, Pflanzen oder Berge, Fluss und Wiese bekommen.

Dazu gab Rudolf Steiner im Dornacher Weihnachtskurs 1921/22 im 10. Vortrag einen Hinweis: „Daher muss man den künstlerischen Sinn in sich haben, wenn man ein Kind in diesem Lebensalter zu erziehen hat, alles wirklich noch zu beleben. Der Lehrer muss beleben; der Lehrer muss die Pflanzen sprechen lassen, die Tiere moralisch handeln lassen; der Lehrer muss in der Lage sein, alles ins Märchen, in die Fabel, in die Legende zu verwandeln."

Die nachfolgende Geschichte über die „Entstehung des Diamanten" möge in diesem Sinne als Beispiel dafür dienen, wie wir unseren Erst- und Zweitklässlern die Welt nahe bringen können.

 

Die Entstehung des Diamanten

Ein heller Schwefelkristall wurde in den Tiefen der Erde einer schwarzen Kohle gewahr, die auch im Innern des Berges lag. Der Schwefel sagte hochmütig zu der Kohle: »Was bist du für ein schwarzer, hässlicher Geselle! Sieh mich an, wie schön ich bin, wie ich glänze und leuchte!« -»Ja«, antwortete die Kohle, »du bist schöner als ich. Aber ich war auch einmal hell und licht. Ich war weißes Holz, aber dann bin ich alt geworden, uralt, und dabei bin ich zusammengeschrumpft und schwarz geworden.« -»Pah«, sagte der Schwefel, »ich werde nicht alt. Ich bleibe ewig jung und schön. Das kann jeder sagen, dass er früher schön war.« -»Du hast recht«, erwiderte die Kohle, »man merkt dir kein Alter an. Du bist glatt und licht. Ich habe viele Runzeln. Die habe ich von der Arbeit. Und wenn ich nicht alt und schwarz geworden wäre in langer, mühsamer Arbeit, könnte ich den Menschen nicht dienen. Und«, so setzte sie glücklich hinzu, »die Menschen haben mich lieb. Sie brauchen mich, und ich diene ihnen gerne. Um den Menschen dienen zu können, bin ich gerne schwarz und unansehnlich.« -»Du bist ein Knecht«, sagte der Schwefel. »Ich aber bin ein Herr! Rück mir nicht auf den Leib. Ich will meine schöne Farbe nicht beschmutzen. Und«, setzte er streitsüchtig hinzu, »auch darin bist du mir nicht überlegen, dass dich die Menschen brauchen. Mich ehren sie. Denn mir verdanken sie Licht. Aus mir bereiten sie Zündhölzer,« -»Licht, wie du es gibst, kann ich den Menschen nicht schenken«, antwortete die Kohle, »aber dafür Wärme. Sie wärmen sich, wenn die Kohle im Ofen glüht.« -»Was du auch immer sagen magst«, beendete der Schwefel das Gespräch, »du bist und bleibst eine hässliche Kohle, und ich bin eigentlich viel zu vornehm, um mich mit dir zu unterhalten.« Die demütige Kohle dachte: »]a, ich bin hässlich. Ich bin schwarz wie die Nacht. Aber ich habe Sehnsucht nach dem Licht.« Als der Schwefel und die Kohle die letzten Worte gewechselt hatten, entstand ein gewaltiges Getöse im Berg.

Es dröhnte und polterte an allen Ecken, denn es war ein Erdbeben entstanden und die Gebirgsmassen stießen mit ungeheurem Druck aneinander. Als der Schwefel dem Erdbeben ausgesetzt war, geriet er in Furcht und Zittern, und er konnte dem Gestein, das ihn bedrängte, nicht standhalten. Und wie ging es der Kohle? Die Kohle erlebte die gewaltige Kraft des Berges. Und unter dem Druck von allen Seiten leuchtete in ihr die Erinnerung auf an das Licht, das sie einst als helle, grüne Pflanze in sich aufgenommen hatte, und an Erdbeben, die sie von der Oberfläche in die Tiefe des Berges versetzt hatten. Die Kohle hatte keine Furcht. Im Gegenteil, sie fühlte Vertrauen und Mut. »Vielleicht bringt mich das Erdbeben an das Licht zurück.« Und als das Erdbeben vorüber war, da konnte man sehen, wie der Schwefel und die Kohle es überstanden hatten. Der Schwefel war zu einem unscheinbaren Häuflein gelben Pulvers zermalmt worden. An der Stelle aber, wo die Kohle gewesen war, lag ein funkelnder Diamant.

 

Aus dem Buch von Elisabeth Klein "Von Pflanzen und Tieren, Steinen und Sternen"