Walli Wehmut

Später am Abend standen Anna und Zefi an der Kaimauer des Hafens und schauten auf das Wasser. "Glaubst du das mit dem Meerweib?" fragte Zefi Anna. "Ja, eine schöne Geschichte, ob sie sich wohl geliebt haben, der alte Seebär und das Meerweib?" Da hörten die beiden Kinder hinter sich ein helles Lachen: "Ob die sich geliebt haben? Ja das haben sie, aber wie das so ist. Meerfrauen sind wie die See, unberechenbar." Die Kinder drehten sich um und sahen einen jungen Burschen, der war nur um ein paar Jahre älter als sie. "Ich bin Nonni, hier hab ich euch das neue Netz gebracht." Nonni, der Neffe vom alten Nordmann, war ein netter Junge, der ganz große Augen bekam, als er die Zirkuswagen sah. "Nils sagt immer, ich soll zur See fahren, um die Welt kennen zu lernen, aber wie gerne würde ich mit euch fahren, um das Land und all die Leute zu sehen." "Oh ich finde das Meer auch sehr schön, aber es ist ja auch das erste Mal, dass ich es sehe." sagte Anna. Als Nonni das hörte nahm er Zefi und Anna bei der Hand und sie gingen zum Strand. Sie mussten nicht lange laufen, es war Flut und das Wasser recht nah. Nonni sagte, dass sie nicht zu weit hinaus gehen dürften, weil bei Flut immer mehr Wasser kommt und plötzlich wird man überrascht und schafft den Heimweg nicht mehr. Das Wasser war sehr kalt, aber Nonni und die Kinder zogen Schuhe und Strümpfe aus und wateten spritzend durch die Wellen. Welch ein Spaß war das. Eine Weile gingen sie so dahin, da fragte Nonni die Kinder: "Wollt ihr sie sehen?" "Wen wollen wir sehen?" fragte Zefi zurück. "Na das Meerweib." Zefi lachte: "Du machst wohl Witze, Nonni." Aber Nonni machte keine Witze. "Seht ihr die Sandbank da drüben? Wir waten ein Stück durch das Wasser in diese Richtung und dann, na ihr werdet schon sehen." Sie krempelten sich die Hosen so hoch, wie es ging und wateten durch das Wasser. Die Abendsonne hing wie ein großer roter Ball über dem Meer. Der Wind spielte leise mit den Wellen und die Wellen rauschten auf ihrem Weg zum Ufer. Nonni blieb stehen. Er hielt den Kopf ein wenig schief und lauschte dem Wind und den Wellen. Dann begann er ganz leise und sanft einen Sprechgesang.

 

Wehende Winde, wallende Wellen,
Wirbelnde, wiegende Wogenmacht
Wasser die schwinden, Wasser die schwellen
Frau Wehmut zeig dich in deiner Pracht.

 

Da hörten die Kinder ein leises Klagen, eine sehnsüchtige Stimme, die wie ein feines, fernes Wehen im Winde über die Wellen zu ihnen drang:

 

Oh Weh, Oh weh, wer ruft mich zum Sand
Oh weh, oh weh, vom Wasser aufs Land.

 

Bei der Sandbank wogten die Wellen stärker und Anna schien es, als ob sie eine große Fischflosse gesehen hätte. Auf einmal aber saß dort auf der Sandbank im Abendlicht eine schöne Frau mit grünen Augen und weißem Haar, das ihr bis zu den Hüften reichte. Unten herum aber sah Anna nur ein wunderschön schillerndes Schuppenkleid. Wahrhaftig, vor ihnen im Wasser war ein echtes Meerweib. Nonni stellte die Kinder vor. "Hallo Walli, hier sind zwei Zirkuskinder, die reisen mit Zirkuskünstlern und Wagen durchs Land und zeigen den Menschen in den Städten ihre Künste. Und das hier ist", dabei wies er mit der Hand zum Meerweib hinüber, "das hier ist das Meerweib Walli Wehmut. Sie lebt, wie der Name schon sagt, im Meer." Anna hob ihre Hand und winkte hinüber. Walli Wehmut schlug mit dem Schwanz ins Wasser, dass die Wellen schlugen und winkte zurück. Dabei lachte sie und es hörte sich an, als gluckerte Wasser. Doch dann hörten die Kinder wieder ihre Stimme herüber wehen:

 

"Oh weh, oh weh, bin immer im Meer,
Oh weh, oh weh und wollte so sehr
Einmal an Land nur verweilen
Wie kann ich dem Wasser enteilen?
Oh weh, oh weh, oh weh."

 

"Tja", sagte Nonni, "ihr hört, Walli Wehmut ist mal wieder wehmütig. Wisst ihr, sie liebt das Meer und die wilde See, aber sie hat noch nie eine Stadt gesehen und würde so gerne eine Reise machen." "Aber sie könnte doch mit uns mit kommen." meinte Zefi. "Ja sie geht mit dem Zirkus SIMBALLODIMBA auf Reisen. Die Menschen werden begeistert sein, ein echtes Meerweib zu sehen. Welch wunderbare Idee." Und mit lauter Stimme rief Zefi zur Sandbank hinüber: "Frau Wehmut wissen Sie was, wir laden Sie ein, mit uns zu reisen." "Warte," fiel Nonni ihm ins Wort, "Walli Wehmut braucht immer Wasser, ohne Wasser kann sie nicht leben."

"O weh, oh weh, für wahr, für wahr, dem Wasser bin ich verbunden
Ohne Wasser bin ich verloren gewiss, hab hier meine Heimat gefunden."

 

Doch Zefi ließ sich nicht beirren. "Eine Wanne, wir werden dir eine wunderschöne Wanne besorgen, in der kannst du den ganzen Tag liegen und mit uns von Ort zu Ort fahren, solange, wie es dir gefällt." Wieder hörten die Kinder wie Walli Wehmut gluckernd lachte:

"Eine Wanne oh weh
Nur Wasser fürn Zeh."

 

Auch Nonni musste lachen, war aber plötzlich ganz aufgeregt. "Du Zefi das mit der Wanne ist eine Wahnsinnsidee, das könnten wir wagen. Ich werde euch begleiten und ich kann mich um Walli Wehmut kümmern, ich meine, wenn sie will, dass ich mitkomme, dann könnt ich ihr doch alles bringen, was sie so braucht. Was meinst du, Walli, wolln wir zusammen auf Zirkusfahrt gehen? Überleg es dir, wenn du willst, dann komm morgen früh zum Hafen, wir warten dort auf dich."

Das Meerweib lachte noch einmal und verschwand dann mit einem starken Schlag ihres Schwanzes, der das Wasser peitschte. "Wunderbar", hauchte Anna.

Und Walli Wehmut kam. Am nächsten Morgen schwamm sie ins Hafenbecken, wartete dort in aller Frühe und besah sich die Zirkuswagen. Auch Nonni war da und hatte bei einem Nachbarn eine große Badewanne besorgt. Sie suchten für Walli Wehmut einen Wagen aus, der ganz viele Fenster hatte, stellten die Wanne hinein und füllten sie mit Wasser aus dem Meer. "Später will ich die Wanne anmalen, vielleicht grün und silbrig, so wie die Schuppen von Walli Wehmut", sagte Nonni. Dann nahm er das neue Netz und warf es ins Wasser. Walli Wehmut schwamm hinein und Rambo Redlich zog das Netz mit dem Meerweib aus dem Wasser heraus und trug sie gleich zur Wanne. Mit einem großen Schwall Wasser und vielen Muscheln, Krebsen und Algen schwabte Walli Wehmut in die Wanne hinein. Sie freute sich sehr und  plantschte vergnügt in ihrem neuen Zuhause. Zuletzt kam auch noch Nils Nordmann, um Nonni und Walli Wehmut zu verabschieden. "Nu fahrt mal, ich wünsch euch, dass ihr immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel habt. Ich alter Seebär bin zu alt für solche Späße, aber dir wünsch ich viel Glück Nonni." Und er schenkte Walli Wehmut zum Abschied eine Kette, die er aus alten Walzähnen für sie geschnitzt hatte.

Der Zirkusdirektor gab das Zeichen zur Abfahrt und die Wagen fuhren los. Die Kinder saßen mit Nonni im Wagen von Walli Wehmut, direkt neben der Wanne, und hörten dem Meerweib und ihrem

Abschiedsgesang zu:

"Oh weh, oh weh ich schwinde dahin, wann werde ich wieder kommen,
Die wilde See, ich lieb sie so sehr, alle Meere hab ich durchschwommen."