Minna Moretti
Eine Buchstabengeschichte von Christoph Bai (Freien Waldorfschule Schwerin)
Am nächsten Morgen erwachten Anna und Zefi schon sehr früh. Sie sprangen aus ihren Betten und liefen gleich hinunter in die Küche. Hier kochte die Großmuter gerade einen Tee und auf dem Tisch standen bereits leckere Brötchen, Butter und Marmelade. Die beiden Kinder setzten sich sogleich und ließen sich die köstlichen, warmen Brötchen schmecken. Zefi konnte dabei gar nicht still sitzen, so aufgeregt war er. Und dann ging die Tür auf und der Zirkusdirektor kam herein, er war schon reisefertig, und seine buschigen Augenbrauen zuckten lustig auf und ab. Er bekam von der Großmutter eine große dampfende Tasse Kaffee, die er auch gleich trank. Dabei zwinkerte er den Kindern zu und sprach: „Na ihr beiden, heut ist der große Reisetag, seid ihr soweit fertig?" Und Anna und Zefi riefen beide mit vollem Munde ganz laut: „Ja". Nach dem Frühstück musste alles ganz schnell gehen, die Bahn konnte ja nicht warten, und so schlüpften die Kinder schnell in ihre Kleider. Dann hoben sie ihre Rucksäcke hoch, uff, war das schwer und standen zum Abmarsch bereit an der Tür. Die Großmutter wollte sie unbedingt bis zum Bahnhof begleiten, und so zogen sie alle vier los. Sie fuhren mit der Tram zum Hauptbahnhof und als sie vor dem Eingang die große Uhr erblickten, sagte der Zirkusdirektor: „Es ist halb acht, da sind wir ja gerade noch rechtzeitig, wir müssen zum Gleis 3." Am Gleis 3 stand bereits der Zug. Er war sehr lang und viele Menschen standen vor den Türen und verabschiedeten sich. Der Zirkusdirektor schob die Kinder zum Wagen 11 und gleich durch die Tür hinein. Die Großmutter kam auch noch mit hinein und drückte ihre Enkelin ganz fest an sich. Sie weinten ein bisschen, da pfiff auch schon der Zugführer und die Großmutter musste schnell aussteigen, sie drückte Zefi aber noch ein großes Paket mit Reiseproviant in die Hand. Die Türen schlugen zu, ein Pfiff und der Zug rollte an. Die große Reise hatte begonnen.
Der Zirkusdirektor hatte die Rucksäcke schon in das Abteil getragen und oben in die Gepäcknetze gehoben. Anna und Zefi durften am Fenster sitzen und drückten sich die Nasen an der Scheibe platt. So vieles sahen sie, Häuser und Felder, Kühe, Straßen und Autos, Wälder und irgendwann auch die Berge. Da war es aber schon Abend geworden und sie hatten fast alle Brötchen aufgegessen. Der Zirkusdirektor schnarchte und Anna und Zefi waren auch ganz müde, denn sie waren den ganzen Tag im Zug herum gelaufen. Nun zogen sie ihre Sitze nach vorne, so dass sie sich ganz weit zurück lehnen konnten, und Anna kuschelte sich an ihren Kuschelhasen. Dann schliefen die Kinder ein.
Als Anna am nächsten Morgen aus dem Fenster schaute, sah alles ganz anders aus. Es war, als ob alles ein bisschen bunter wäre, und die Sonne schien auch gleich viel heller. „Das ist Italien", sprach der Zirkusdirektor „und gleich sind wir im schönen Mailand, oder Milano, wie die Italiener sagen, angekommen." „Italien echt, wir sind schon in Italien?" rief Zefi, der mit ganz strubbeligen Haaren auch erwachte. Der Zirkusdirektor schaute auf seine Uhr und sagte: „In einer halben Stunde kommen wir an." Da liefen die Kinder schnell auf die Zugtoilette, wuschen sich das Gesicht und putzten sich die Zähne. Dann lud Zefis Vater beide im Zugrestaurant auf eine große Tasse Schokolade ein. Auf dem Mailänder Bahnhof war eine Menge los, obwohl es noch so früh am Morgen war liefen überall ganz viele Leute umher und alle sprachen eine andere Sprache. Anna verstand nichts. Kein Wort. „Das ist Italienisch" erklärte der Zirkusdirektor. Dann rief er ein Taxi herbei und half den Kindern beim Einsteigen. „Wo fahren wir den eigentlich hin?" fragte Zefi. Da lachte der Zirkusdirektor. „Weißt du mein Junge, wir werden Signore Moretti aufsuchen. Der hat eine Manufaktur und macht die besten und schönsten Zirkuszelte. Du wirst schon sehen, und die Preise sind auch nicht schlecht."
Signor Moretti war ein älterer kleiner Herr und begrüßte den Zirkusdirektor überschwänglich, er streckte die Arme aus und klopfte ihm immer wieder auf die Schulter. Er strubbelte Zefi über das Haar und machte vor Anna eine große Verbeugung. „Mama mia." Sagte er „Mama mia, Minna, Minna komme her und schau dir an die Bambini aus Deutscheland." Da kam eine junge Frau herbei, die war sehr mollig und richtig pummelig, aber auch sehr hübsch, mit roten Backen und einem großen roten Mund. Zefis Vater sprach ein paar Worte mit ihr und sagte den Kindern, er werde sich mit Signore Moretti nun ein paar Dinge anschauen und wichtige Sachen besprechen müssen und dass Anna und Zefi solange bei seiner Tochter, der schönen Minna, bleiben könnten. Lachend zog Minna Moretti die beiden Kinder in ein Zimmer, das in lauter roten Samt gekleidet war. In der Mitte stand ein runder Tisch mit einer großen Schale und in der Schale war ein riesiger Marmorkuchen. Die Kinder nahmen Platz auf Stühlen, die ganz weich mit rotem Samt gepolstert waren. Vor den Fenstern hingen schwere, rote Samtvorhänge, und auch Minna Moretti hatte einen roten, mit Rüschen besetzten Morgenmantel an. Zum Glück sprach Minna Moretti nicht nur italienisch, sie konnte auch Deutsch sprechen, sogar richtig gut. „Ich habe in München Gesang studiert", sagte Minna Moretti, „wisst ihr, meine Lieben ich bin ein Mezzosopran." Mezzosopran, das hatte Anna noch nie gehört, aber schön rund war sie jedenfalls, die Minna, mit ihrem großen roten Mund.
Und dann mussten die Kinder Marmorkuchen essen. Minna Moretti füllte ihre Teller mächtig voll. Doch was heißt hier sie mussten, der Marmorkuchen schmeckte wirklich ausgezeichnet, er schmeckte so gut, dass sie immer mehr davon haben wollten. „Mmh" schmatzte Anna „mir schmeckt mein Marmorkuchen wundervoll." „Mmh" schmatzte Zefi, „mehr, ich mag noch viel mehr Marmorkuchen essen." „Soviel du magst, mein Lieber, soviel du magst." sagte Mina Moretti und gab dem Jungen noch ein besonders großes Stück. „Aber jetzt möchte ich für euch singen. Früher habe ich immer gesungen, die ganze Welt hat meine Stimme vernommen. Mina Moretti, die Stimme aus Mailand." Dann stellte sie sich ans Fenster machte ihren großen roten Mund auf und fing an zu singen. So schön war ihre Stimme, dass Anna den Marmorkuchen vergaß und mit offenem Munde da saß und lauschte. „O sole mio, o sole mio", sang die Minna Moretti und noch vieles mehr. Am Ende klatschten Anna und Zefi mit beiden Händen ganz laut, so gut hatte es ihnen gefallen und die Minna Moretti verbeugte sich und sagte: „Mille grazie, mille grazie, meine Lieben." Doch mit einem Mal schaute sie ganz starr und schrie ganz schrill und laut: „Eine Maus, eine Maus, Mama mia, eine Maus!" Dabei hatte sie ihre pummeligen Finger an den großen roten Mund gepresst und ihre Augen schauten mit Schrecken unter den Tisch. Tatsächlich als Anna und Zefi nach unten blickten, sahen sie eine kleine pelzige Maus, die auf dem Teppich hockte und die Krümel des Marmorkuchens mümmelte. Zefi mochte Mäuse sehr und flink wie er war, hast du nicht gesehen, war er unter den Tisch gekrochen und hatte die kleine, mümmelnde Maus in die Hand genommen. Er lachte und hielt sie der Minna Moretti vor die Nase. Doch die schrie mit lauter Stimme:
Mama Mia!
Mäuse messen mir mein Essen,
mein Essen messen Mäuse mir.
Mama Mia!
„Mäuse messen mir mein Essen, mein Essen messen Mäuse mir. Mäuse messen mir mein Essen, mein Essen messen Mäuse mir." Sie schrie solange, bis Zefi die Maus wieder absetzte und sie mit großer Eile in der Mauer hinter dem roten Samtvorhang am Fenster verschwand. Minna Moretti war ganz blass im Gesicht. Da ging auf einmal die Tür auf und Signor Moretti stürzte mit dem Zirkusdirektor in das Zimmer. „Mann oh Mann", sagte der Zirkusdirektor zu Minna Moretti, „du machst ja eine Miene, als ob morgen die Welt untergehen würde." Minna Moretti erzählte, was geschehen war und alle setzten sich lachend an den Tisch und schmausten Marmorkuchen.
Der Zirkusdirektor hatte bei Signor Moretti ein wunderschönes großes Zirkuszelt bestellt und Signor Moretti versprach, dass er sich alle Mühe machen wolle, damit das Zelt ein Meisterwerk werden würde. Da bedankte sich der Zirkusdirektor und sprach: „Jetzt brauchen wir vor allem noch gute Zirkuswagen." Da kenne ich einen Mann" sagte Signor Moretti „der hat immer einige sehr gute Schmuckstücke. Aber er wohnt sehr weit von hier, in einem andere Land. In Budapest hat er seine Werkstatt." „Gut, sagte der Zirkusdirektor, fahren wir dort hin. Minna Moretti hatte ganz große Augen bekommen und nun fragte sie schnell: „Ihr geht auf Reisen, ihr fahrt in die weite Welt? Oh wie gerne möchte ich mit kommen und singen, meine Stimme, die Stimme aus Mailand geht wieder auf Tournee. Mina Moretti kommt zu euch meine Lieben." Zefis Vater schaute sich Minna Moretti kurz ganz genau an und Anna flüsterte ihm leise ins Ohr: „Sie singt wirklich zauberhaft, weißt du, sie ist ein Mezzosopran." und so durfte die Minna Moretti mit kommen. „Ich hab ja schon immer eine Stimme für den Zirkus Simballodimba gesucht, nun gut, morgen Abend fahren wir nach Budapest."
Das war eine Reise. Kaum waren sie in Italien angekommen, sollte es schon weiter gehen. Aber jetzt waren sie zu viert, denn Minna Moretti wollte gleich mit ihnen fahren, und so packte sie noch am selben Tag ihren Koffer und der war wahrlich gewaltig groß. Als der Zirkusdirektor Stirn runzelnd den Kopf schüttelte, sagte Minna nur: „Meine Garderobe, meine Kleider, meine Mäntel, meine Hütte und meine Musiknoten, die müssen alle mit." Sie versprach auch, dass sie selbst ihren Koffer tragen würde und so hatte der Zirkusdirektor nichts dagegen einzuwenden. Signor Moretti besorgte ihnen am nächsten Tag die Fahrscheine nach Budapest, währenddessen zeigte Minna den Kindern die schöne Stadt Mailand. Zefi begann zu maulen, denn Minna schleppte die Kinder die meiste Zeit in Modeboutiqen. Aber der Junge wurde entschädigt, als sie zuletzt in ein Geschäft gingen, in dem Minna ganz viel Schokolade und Bonbons spendierte. Da lachte der Zefi und steckte sich süße Mandelplätzchen in den Mund. Gegen Abend wurden die Kinder sehr aufgeregt und auch Minna Moretti redete immer zu von der großen Reise und sang in einem fort kleine Arien. Der Zirkusdirektor hatte gesagt, dass sie diesmal im Zug richtige Betten haben würden und so war es dann auch. Der Waggon sah sehr edel aus, überall war an den Wänden und auf dem Boden ein weicher Teppich und die Schlafkabinen waren sehr gemütlich, eng und kuschelig. Aber es waren richtige Betten. Signor Moretti winkte zum Abschied und ließ ein weißes Taschentuch im Winde flattern. Minna hatte ihn noch einmal an ihre große Brust gedrückt und dabei war ihr eine kleine Träne die Wange herunter gelaufen, aber die hatte sie schnell wieder fort gewischt, denn eigentlich freute sie sich ja auf die Reise. Die Zugfahrt war diesmal sehr lustig, denn Minna Moretti erzählte die ganze Zeit von ihren früheren Reisen, und da es draußen schnell dunkel wurde, legten die Kinder sich in ihre Betten und hörten der Sängerin zu. Bald aber schliefen sie ein, denn das eintönige Rattern der Räder wiegte sie in den Schlaf.