Die Geschichte der Großmutter
Eine Buchstabengeschichte von Christoph Bai (Freien Waldorfschule Schwerin)
Am Abend vor der großen Reise erzählte die Großmutter eine wundervolle Geschichte. Anna und Zefi, die ganz aufgeregt in der Küche umher sprangen, wurden von der Großmutter sanft auf die Ofenbank geschoben. Dann sah sie ihre Enkelin liebevoll an und sprach: „Weißt du Anna, wenn du mit dem Zefi und dem Zirkusdirektor jetzt so eine weite Reise machst, will ich euch noch eine Geschichte erzählen. Es ist eine alte, sehr alte Geschichte und sie hat sich wohl so oder so ähnlich zugetragen. Die Menschen haben sich früher gerne an sie erinnert und auch heute noch wird sie manchmal erzählt, aber viele Menschen haben sie leider vergessen. Also hört gut zu ihr beiden und spitzt eure Ohren.
Vor Zeiten, als die Menschen noch jung waren, da waren sie in vielem noch nicht so geschickt wie sie es heute sind. Wenn damals die Menschen eine schöne Blume sahen, so freuten sie sich an ihr, aber sie konnten ihre Freude einander noch gar nicht mitteilen. Wenn sie ein kleines hilfloses Tierlein sahen, hegten und pflegten sie es, aber sie konnten ihre Sorge und Liebe einander nicht erzählen. Und wenn sie sich fürchteten, weil es nachts so finster war, so hatten sie große Angst, aber sie konnten von dieser Angst nicht sprechen. Das dauerte die Engel sehr, denn sie selber sangen in den schönsten, goldenen Tönen von der Schönheit der Welt. Eines Tages stiegen sie in leuchtenden Farben auf der großen Regenbogenbrücke vom Himmel auf die Erde herunter, um den Menschen die goldenen Laute zu schenken.
Zuerst betrat ein Engel den Regenbogen, der hatte ein Gewand an, das leuchtete hell in den Farben des frohen und schönen Frühlings, so grün und golden leuchtend wie die Blätter der Birke. Leichten Fußes betrat er die Erde mit weit ausgebreiteten Armen und schenkte den Menschen das goldene A und versenkte die Kraft dieses ersten Lautes tief in die Herzen der Menschen. Seit dieser Zeit konnten die Menschen, sich staunend über die Schönheit der Welt freuen und diese Freude laut aussprechen. Dann sagten sie: Ah.
Als nächstes betrat mit sanftem Fuße ein Engel den Regenbogen, der hatte ein liebliches, warm strahlendes, orangenes Gewand und seine Arme schienen die ganze Welt aus lauter Liebe zu umarmen und zu beschützen. Dieser Engel schenkte den Menschen den goldenen Laut des O. Seit dieser Zeit konnten die Menschen, wenn sie ihre Liebe und ihre Sorge für jemanden zum Ausdruck bringen wollten, zu einander sprechen und es hörte sich so an: Oh.
Der nächste Engel trug ein Gewand, das strahlte so dunkel blau wie der Himmel des Nachts, seine Augen leuchteten wie zwei blitzende Sterne und mit dem Engel kam ein kühler Hauch daher. Als er die Erde betrat, wiesen seine Arme beide gen Himmel. Dieser Engel schenkte den Menschen das goldene U. Seitdem konnten die Menschen, wenn sie sich fürchteten ihre Furcht einander mitteilen. Das hörte sich ganz schaurig an: Uh sprachen die Menschen und duckten sich dabei ein wenig.
Da trat ein Engel über die Regenbogenbrücke auf die Erde und sein Gewand leuchtete in einem kühlen Grün. Seine Arme kreuzten sich vom Körper weg und seine Handflächen hatte er gegen die Erde gekehrt. Der Engel sah sehr streng aus, doch konnte sein Antlitz auch in einem milden, sanften Schein erstrahlen. Dann lächelte der Engel geheimnisvoll. Dieser Engel schenkte den Menschen das goldene E, und mit dem E erhielten sie die Kraft, sich gegen die wilden der Welt zu wehren. Wenn ihnen ein wildes Tier zu nahe kam, traten sie einen Schritt zurück, erhoben ihre Handflächen und sprachen Eh. Mit dem E hatten sie aber auch noch eine andere Kraft erhalten, die ihnen gebot, vor der Größe und der Macht der Welt Ehrfurcht zu haben.
Der letzte Engel der auf der Regenbogenbrücke zur Erde hinab kam, trug ein leuchtend gelbes Gewand, das heller als die Sonne erstrahlte. Sein Antlitz war klar wie die reinste Luft. Der Engel wies mit einem Arm gen Himmel und mit dem anderen zur Erde und der Weg, den seine Füße schritten war so gerade wie ein Strahl der Sonne. Dieser Engel schenkte den Menschen das I, und mit dem I schenkte er ihnen die innere Aufrichtekraft.
Fortan konnten die Menschen Ich zu sich selber sagen und sie besannen sich und erkannten dass sie Menschen waren und dass sie die Welt verwandeln konnten. Da beschlossen sie, ihre Hände, ihre Füße, ihre Augen, Ohren, Zungen und vieles mehr, vor allem aber ihr Herz ganz geschickt werden zu lassen. Von nun an gingen sie in der Welt umher und schauten sich um, und sie lernten an den Dingen der Welt noch viele andere Laute kennen, mit denen sie selbst das aussprechen konnten, was ihr Herz ihnen sagte. Lange Zeit, viele Menschenalter sprachen die Menschen zueinander so, wie es ihr Herz ihnen eingab und sie vergaßen die Engel nicht, die auf dem Regenbogen zur Erde hernieder gekommen waren und ihnen die ersten fünf goldenen Laute geschenkt hatten. Alles was die Menschen taten und sprachen war gut und leuchtete so golden wie die Geschenke der Engel. Zu dieser Zeit war Frieden auf Erden, denn die Menschen waren froh und schenkten einander in den wunderschönsten Liedern die Kraft der goldenen Laute.
Doch nach und nach verblasste bei einigen Menschen die Erinnerung an die Engel. Diese Menschen hörten nicht mehr auf ihr Herz, sie dachten vielmehr an das, was sie selber alles erschaffen hatten und wie geschickt sie selber in allem geworden waren. Da sprachen sie zueinander nicht mehr von dem, was ihnen ihr Herz eingab, sondern sie sagten nur noch die Worte, die sie selber mit ihrem Kopf denken konnten. Sehr geschickt waren sie mit diesem Kopfe geworden. Da verblasste der Glanz der goldenen Laute und es wurden nicht nur ihre Worte dunkler, sondern auch ihre Taten. Die Menschen schauten einander neidisch an und wollten es immer besser haben als ihre Nachbarn. So kam die Dunkelheit über die Erde und mit der Dunkelheit kamen allerlei Wesen der Finsternis, die Leid brachten über die Menschen und die Menschen überzogen einander mit Krieg. So gab es bald nur noch wenige Länder, in denen die Menschen fröhlich waren, für einander sorgten und goldene Lieder sangen.
Deshalb liebe Kinder, bewahrt die goldenen Himmelslaute gut in eurer Erinnerung, damit eure Taten immer so hell leuchten wie die Himmelslaute, die die Engel einst den Menschen auf der Erde geschenkt haben. Wenn ihr auf eurer großen Reise etwas erlebt, das besonders schön ist oder wenn ihr euch fürchten müsst oder ihr euch um jemanden sorgt, dann könnt ihr mir dass mitteilen. Denn für jeden goldenen Himmelslaut gibt es ein Zeichen, das könnt ihr auf ein Papier malen und mir mit der Post schicken. So erfahre ich immer, wenn ihr etwas Schönes erlebt habt und kann mich mit euch freuen. Passt gut auf euer Zeichen auf, es wird euch noch von großem Nutzen sein. Nun aber husch, husch, husch ganz leis und fein, wollt ihr in eurem Bettchen sein."