Die Entdeckung von Machu Picchu

Zusammengestellt von Frederike Wandersleb

(Erzählt nach  "Untergegangene Kulturen: Gold und Macht der Inka" /Time-Life Bücher, Amsterdam 1993)

Im Sommer 1911 war der amerikanische Forscher Hiram Bingham unterwegs im Herzen von Peru, um den sagenhaften Ort Vilcabamba zu suchen. Von ihm berichteten uralte Chroniken, er sei der letzte Zufluchtsort der Inka gewesen, in der Zeit, als die Spanier das Land eroberten. Von dieser versteckten Festung aus hatten sie bis zu ihrer endgültigen Niederlage immer wieder die Spanier angegriffen.

Vor drei Wochen waren Bingham  und sein Team von der alten Inka-Hauptstadt Cuzco  nach Nordwesten aufgebrochen, um ein Gebiet zu erkunden, wo die Anden 4500 m hoch in den Himmel aufragen. Sie folgten dem Fluss Urubamba,  der sich in einem tief eingeschnittenen Tal durch den Regenwald den Weg zum Amazonas sucht. Bingham folgte einer neuen Piste, die erst kürzlich entlang des Flusses gebaut worden war.

„Hier gibt es nicht nur schneebedeckte Gipfel zu sehen, die die Wolken durchbrechen, sondern auch gigantische 1000 m tiefe, steile Schluchten aus vielfarbigem Granit, auf deren Grund schäumende, glitzernde Stromschnellen tosen, hier sieht man auch Orchideen und Farne,  üppig wachsende Vegetation, die geheimnisvolle Magie des Urwaldes", schrieb er in sein Tagebuch.

Am Abend zuvor hatte er sich die Namen zweier Berggipfel auf der anderen Seite des Flusses notiert, zwischen denen auf einem Bergsattel alte Ruinen sein sollten, wie ihm Einheimische erzählt hatten. Einem Schankwirt gab er einen Silberdollar, wenn er  ihn zu dieser Stelle führen würde. Binghams Kollegen glaubten diesem Gerede nicht, und da es heftig regnete, gingen sie nicht mit, als sich Bingham auf den Weg machte.

Bald kam Bingham mit seinem Führer an eine Brücke aus langen, dünnen Baumstämmen, die nur mit Schlingpflanzen zusammengebunden waren, die über den tosenden Urubamba führte.  Ein unvorsichtiger Schritt und der Absturz wäre unvermeidbar gewesen! Zentimeter für Zentimeter schob sich Bingham  auf allen Vieren über die feuchte, glitschige Brücke, während sein Begleiter leichtfüßig hinüberlief.  Auf der anderen Seite angekommen mussten sie einen steilen Pfad aufwärts klettern und die Augen offen halten, um nicht auf eine der giftigen Lanzenschlangen zu treten. 600 m hoch mussten sie aufsteigen, um schließlich an eine Stelle zu gelangen, wo Bingham am Ziel seiner Wünsche stand:

„Vor mir lagen die Mauern verfallener Gebäude, die von der hohen Baukunst der Inka zeugten. Sie waren kaum zu sehen, da sie teilweise von Bäumen und Moos verdeckt waren, einer jahrhundertealten Vegetation, aber hier und da tauchten aus dem Schatten der Ranken die Mauern aus weißen, sorgfältig behauenen Granitquadern auf, die kunstvoll zusammengefügt waren. Ich wanderte durch Ruinen und entdeckte Wunder auf Wunder, - ein Mausoleum, mehrere prachtvolle Tempel, einen weiten Platz und Dutzende von Häusern." Heute kann man diesen Ort recht bequem bereisen, denn eine Eisenbahnlinie führt entlang der Route, die Bingham einst verfolgte.

Die Ruinen wurden alle befreit von den Pflanzen und teilweise restauriert, die Wege dazwischen begehbar gemacht. Die Ruinen sind gut erforscht, man weiß, welchem Zweck die Tempel und Gebäude dienten.

Auf dem höchsten Punkt eines Felsens steht ein behauener Stein, der „Intihuata"  (inti d.h. Sonne, huata d.h. festbinden). Die Priester beobachteten den Schatten, den dieser Stein wirft und bestimmten so den besten Zeitpunkt für Aussaat und Ernte, denn zur Frühlings- und Herbst- Tag-und-Nacht-Gleiche z.B. wirft der Stein keinen Schatten.

Heute nimmt man an, dass dieser Ort auf einem schmalen Berggrat zwischen zwei Gipfeln,  der Machu Picchu genannt wird, nicht die von Bingham gesuchte Festung Vilcabamba ist, sondern ein reiner Tempelbezirk, der schon vor dem Einbruch der Spanier von den Inka aufgegeben worden war.

Aber wenn es eine Liste der Weltwunder der „Neuen Welt" gäbe, gehörte die Anlage von  Machu Picchu gewiss dazu.