Die Frage der Vertragstreue

Einer der Kernpunkte des Machiavellismus ist die Lehre über das Worthalten. «Inwiefern ein Fürst sein Wort halten muß», über­schreibt Machiavelli das berühmte 18. Kapitel seines «Principe», wor­in er sagt, die Erfahrung seiner Gegenwart lehre, dass diejenigen Für­sten große Dinge ausgerichtet hätten, die sich aus Treu und Glauben wenig gemacht haben, und am Ende diejenigen, welche redlich han­delten, überwunden haben. Machiavelli zieht das Fazit mit folgenden Worten:

«Ein kluger Fürst kann und darf daher sein Wort nicht halten, wenn die Beobachtung desselben sich gegen ihn selbst kehren würde, und die Ursachen, die ihn bewogen haben, es zu geben, aufhören. Wenn die Menschen insgesamt gut wären, so würde dieser Rat nichts wert sein. Da sie aber schlecht sind und ihr Wort gegen dich nicht halten, so hast du es ihnen auch nicht zu halten: und einem Fürsten kann es nie an Vorwand fehlen, es zu beschönigen, wenn er es bricht.»

 

Friedrich schrieb selbst am 12. Mai 1741 aus dem Lager bei Mollwitz an seinen Minister von Podewils:

«Unter Schelmen in der Rolle eines ehrlichen Mannes bleiben ist eine sehr gefährliche Sache; unter Betrügern der Schlaue zu sein, ist ein verzweifeltes Unternehmen von sehr Ungewissem Erfolge. Was also tun? Krieg führen und unterhandeln: das eben tut Ihr ergeben­ster Diener und sein Minister. Gibt es etwas zu gewinnen bei der Ehrlichkeit, so wollen wir ehrlich sein; ist es nötig zu düpieren, so wollen wir Schelme sein ...»

 

Die ganze Zwiespältigkeit, die in Friedrichs eigenem Wesen liegt, kommt in den bezeichnenden Worten von 1743 zum Ausdruck:

«Ich hoffe, daß die Nachwelt, für die ich schreibe, den Philosophen in mir vom Fürsten und den anständigen Menschen vom Politiker unterscheiden wird. Ich muß gestehen, es ist sehr schwer, Anständig­keit und Reinheit zu bewahren, wenn man in den großen politischen Wirbelwind Europas gerissen ist. Man sieht sich unaufhörlich in Ge­fahr, von seinen Alliierten verraten, von seinen Freunden verlassen, von Eifersucht und Neid unterdrückt zu werden, und man sieht sich schließlich gezwungen, zwischen dem schrecklichen Entschlüsse zu wählen, seine Völker oder sein Wort zu opfern.

Vom kleinsten bis zum größten Staate kann man rechnen, daß der Grundsatz, sich zu vergrößern, das Fundamentalgesetz der Regie­rung ist ...

Die Leidenschaften der Fürsten haben keinen anderen Zügel als die Grenze ihrer Macht. Das sind die konstanten Gesetze der europäi­schen Politik, denen jeder Politiker sich beugt. Würde ein Fürst seine Interessen weniger sorgfältig wahren als seine Nachbarn, so würden diese sich nur stärken, und er würde zwar tugendhafter, aber auch schwächer übrig bleiben ... Verträge sind, um die Wahrheit zu sagen, nur Eide des Betrugs und der Treulosigkeit.»

 

Die hauptsächlichsten Gedanken dabei lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Der Staatsmann kann oftmals nicht diejenigen Regeln der Moral befolgen, die für das Verhältnis von Privatleuten untereinander gel­ten. Denn er befindet sich in einer anderen Lage als ein Privatmann. Während dieser z. B. durch einen Vertrag nur sich selbst bindet, ver­pflichtet der Staatsmann durch einen Vertrag seinen Staat. Der Staatsmann hat nicht seine eigenen Interessen zu vertreten (auf die er, um seinem Worte treu zu bleiben, verzichten könnte), sondern die seines Volkes bzw. Staates. Es ist sein oberstes Gesetz, für deren Wohl zu sorgen. Er muß daher um des Interesses seines Volkes oder Staates willen in manchen Fällen das Opfer auf sich nehmen, sein Wort zu brechen. Ist es besser, daß der Staat zugrunde geht oder daß der Fürst nur wortbrüchig wird? Die Interessen des Staates und die Situationen wandeln sich, dem muß sich der Fürst in seinem Verhalten anpassen