Ein Lesestück zum Zeitalter der Konfessionalisierung
Eingereicht durch Peter Amsler (Freie Waldorfschule Kleinmachnow)
Vor dem Schwenninger Kirchenkonvent
Nach einer wahren Begebenheit, nacherzählt auf Grundlage eines Vortrags von Michael Tocha[1]
Die katholische Stadt Villingen in Baden und das protestantische Dorf Schwenningen in Württemberg trennte viele Jahrhunderte lang nicht nur das Flüsschen Brigach. Die unterschiedlichen Konfessions- und Landeszugehörigkeiten sorgten auch für unterschiedliche Lebenswirklichkeiten der Menschen. Vor allem die Konfessionsgrenze sorgte für je eigene Mentalitäten und Milieus.
Erzähler:
Am 6. Januar 1670 musste sich Verena Müller aus dem evangelisch gewordenen Schwenningen vor dem dortigen Kirchenkonvent verantworten. Man warf ihr vor, sie habe ihr krankes Kind zu den katholischen Nonnen nach Villingen getragen. Sie gab diese Tat zu und rechtfertigte sich damit, viele Frauen im Dorf hätten es ihr geraten.
Georg Wilhelm Moseder, Pastor der protestantischen Kirche:
„Wie ist dein Name, Frau? Und wie alt bist du?“
Verena Müller:
„Ich bin geboren als Verena Mohr, werde auch ‘die Möhrin’ genannt. Geboren bin ich im Jahr des Herrn 1633, wann genau, weiß ich nicht. Es war Sommer.“
Vogt Wern Lauffer ragt als Zweiter:
„Von wem stammt dein Kind?“
Verena Müller:
„Nicht von meinem ersten Ehemann. Das war der Schmied Leonhard Klingenfuß. Von ihm habe ich zwei Söhne. Doch verstarb er. Am 12. Mai im Jahr 1663 habe ich ihn begraben müssen. Nach der Zeit, am 15. November desselben Jahres, heiratete ich erneut, und zwar den Jerg Müller. [Pause, dann fragend] Wie soll ich es sagen ...? [Pause, dann fest] Er war der, der da war - unser Geselle von 16 Jahren ... Von ihm ist das Kind. Und seinen Namen trage ich jetzt.“
Der Pastor fragt wieder:
„Du bist angeklagt, mit deinem kranken Kind nach Villingen zu diesen Katholiken gegangen zu sein. Was hast du dazu zu sagen?“
Verena Müller:
„Hier in Schwenningen darf ich nicht zum Arzt gehen. Auch in Rottweil nicht. Und der Brucharzt nutzte mir doch nichts. [Sie schluchzt] Und überhaupt: Das sind doch Männer, und Männer dürfen keine Kinder behandeln! Es sind doch eure Regeln! Was hätte ich denn machen sollen? Ich habe mich doch nur meines kranken Kindes erbarmt. Hätte ich gewusst, dass es so viel Aufheben macht, hätte ich es gewiss nicht getan!“
Untervogt Jacob Haller - auch er ist Richter des Kirchenkonvents - schaut sie ernst an:
„Natürlich. Kinder sind Frauensachen. Das überlassen wir ganz den ihren. Und haben wir nicht in der Stadt genügend Hebammen? Sie sind für dich und dein Kind zuständig. Und dann ist da doch noch das geschworene Weib. Hat es dir nicht geholfen und beim Herrgott geschworen, dass sie die Hebamme beobachten werde, ob diese sich nicht bestechen lasse, keinen Unterschied zwischen reich und arm mache, dem Kind nichts antue und keine abergläubischen Bräuche dulde?“
Der Pastor:
„Ja, warum bist du nicht zu denen gegangen, Frau? Sie hast du und deines Gleichen doch dafür gewählt!“
Verena Müller weinend:
„Aber diese Frauen, die Ihr uns da zur Wahl gegeben habt, haben doch keine Ahnung! Gewählt haben wir sie, ja, aber bessere haben wir doch von Euch nicht bekommen! Viele Frauen rieten mir also, zu den Katholiken zu gehen. Die Nonnen im Kloster würden schon besser helfen, sagten sie.“
Vogt Wern Lauffer scharf:
„So? Wie denn?“
Der Pastor beschwichtigend:
„Lass gut sein, Vogt. Sie soll in Ruhe erzählen.“
Verena Müller:
„Die Nonnen machen dort Arzneien und verkaufen sie. Dort gibt es Lungenwasser, Brandwasser, Kraftwasser, Wermutsaft, Mandelmilch und viele andere kräftende Sachen, auch Sauerampfersud. Ich wollte doch nur, dass der Sauerampfer das Gelbe auf der Haut meines Kindes wegmacht und die Koliken im Bauch aufhören.“
Untervogt Jacob Haller:
„Nun gut ... aber sie sollen dort noch mehr haben, dessen du gierig hinterher warst.“
Verena Müller:
„Gewiss. Lebkuchen, Krapfen, Kirschwasser, eingemachte Sachen und Honig. [Verena schaut schuldbewusst] Aber die Nonnen müssen das doch geben! Die Armut ist doch so groß.“
Der Untervogt misstrauisch:
„Und von deren Irrlehren und Falschheiten hast du wohl auch etwas abbekommen? Das Kloster ist ja voll vom alten Glauben! ‘Fromm katholisch’ nennen sie sich. Ich sage, sie sind schlimmer wie des Sultans Untertanen! Haltet euch fern von ihnen und beschmutzt nicht unseren heiligen Glauben. [energischer] Ich ermahne euch stets: Haltet das Abendmahl rein! Schwatzt nicht und lacht nicht während der Kirche! Sonst seid ihr des Teufels!“
Verena Müller:
„Gott bewahre!“
Der Untervogt setzt fort:
„Wir wollen nämlich würdig im Gottesdienst das Abendmahl feiern, nicht dem Hokuspokus der Katholiken frönen. [Er setzt neu an] Lasst uns das Schriftwort ernst nehmen: ‘Wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und wirst allda eingedenk, dass dein Bruder etwas wider dich habe, so [...] gehe zuvor hin und versöhne dich mit ihm."
Der Pastor:
„Wohl gesprochen, Haller. Frau, du weißt, warum wir - das Kirchenkonvent - zu nutzen sind?“
Verena Müller:
„Ja, ich weiß es. Es soll alles mit Recht zugehen in der Stadt.“
Vogt Wern Lauffer:
„So ist es. Heimliches Zusammenschlupfen junger Leute vor der Heirat dulden wir nicht. Und hättest du dein krankes Kind in Schande geboren, hätten wir schon dafür gesorgt, dass der Kindsvater Jerg Müller das Eheversprechen unverzüglich einlöst.“
Verena Müller:
„Gott bewahre. Es ist beim Jerg alles mit Recht zugegangen.“
Vogt Wern Lauffer:
„Wohl denn. So soll es sein. Und du weißt, Frau, dass du immer zu uns kommen kannst, dich über ihn zu beklagen, wenn der Jerg dich schlägt, ob in Trunksucht oder nüchtern? Wir - die hohen Herren des Konvents - stehen dir bei.“
Verena Müller:
„Ja, das weiß ich wohl. Viele Frauen sind dafür Zeugen.“
Der Pastor ergreift erneut das Wort.
„Da du so verständig bist, lass dir noch etwas sagen. Unser Dorf Schwenningen liegt inmitten des katholischen Unglaubens. Das weißt du. Mache dich also zur Kämpferin der Reinheit unserer evangelischen Lehre und Lebensführung gegen die verderblichen papistischen Einflüsse!“
Der Untervogt:
„Hast du von der Bauerntochter Margarete gehört?“
Verena Müller:
„Ja, das habe ich. Angezeigt wurde sie bei euch, weil sie sich mit einem katholischen Gesellen von Weilerspach eingelassen hatte. Ihre Eltern wurden vor den Kirchenkonvent geladen und versprachen, solches zu verhindern; doch war Margarethe nicht vom Gesellen abzubringen. Die ganze Stadt sprach darüber.“
Der Vogt Haller:
„Hart werden wir euch junge Leute maßregeln, wenn ihr zu einem katholischen Ort zum Tanzen geht. Erst letztens war es wieder so weit: Weil 16 Mädchen und 6 junge Gesellen nach Thierheim auf die Kirmes gingen, musste jeder 15 Kreuzer zahlen!“
Verena Müller kleinlaut:
„Ja, auch davon habe ich gehört. Nur bei der Villinger Fassnacht soll es nicht angehen, wenn junge Leute in der Fastenzeit nach Villingen ziehen und da mit den Katholiken verkappt und in Narrenkleidern herumlaufen.“
Der Pastor ärgerlich:
„Papperlapapp! Genug gesprochen ... Und außerdem: Geschäfte machen aufs Nötigste, das erlauben wir ja ... Wir, die Richter des Kirchenkonvents, wollen mit dir, Frau, auf jeden Fall ein Einsehen haben. Wir lassen dich ungestraft davongehen, wenn du uns versprichst, Derartiges wie den Gang zu den katholischen Nonnen nie wieder zu tun.“
Verena Müller:
„Das will ich wohl versprechen. Habt Dank, ihr hohen Herren.“
Erzähler:
Verena und Jerg Müller haben über 36 Jahre zusammengelebt, sie hatten gemeinsam fünf Kinder, und es ist ihnen, wie fast allen Menschen bis weit ins 19. Jahrhundert, die Erfahrung der Allgegenwart des Todes, insbesondere auch des Todes von Kindern nicht erspart geblieben.
Denn für den 14. Februar 1670, sechs Wochen nach jener Verhandlung vor dem Kirchenkonvent, findet sich im Schwenninger Totenbuch die Eintragung "ist begraben wordten Christina, Jerg Müllers undt Verena seiner Haußfraw Ehlich kindt seines Alters 1. Jahr Undt 9. Wochen." Es ist das Kind, das nach Villingen getragen wurde - die Entschlossenheit der Mutter und die Fürsorge der Nonnen im Villinger Bickenkloster hatten es nicht retten können.
Villingen und Schwenningen blieben bis ins 20. Jahrhundert in herzlicher Feindschaft verbunden. Erst 1972 wurden sie, die auf der Grenze zu Baden und Württemberg liegen, zu einer Stadt vereinigt.
[1] Michael Tocha: Eine Schwenninger Mutter, ihr krankes Kind und die Nonnen zu Villingen. Überarbeitete Fassung eines Vortrags vor dem Geschichts- und Heimatverein am 28. November 2002. In: Geschichts- und Heimatverein Villingen e.V.. Archiv der Schriften des Vereins. http://wiki.ghv-villingen.de/?p=6664 (abgerufen am 11.05.2017)