Mesopotamien, ein Land ohne Fels und Stein

Ein Text von Herbert Gromer

Neben Ägypten finden wir einen zweiten Kulturkreis, der viel Ähnlichkeit mit dem Niltal zu haben scheint: Mesopotamien. Hier treffen viele Völker zusammen, zwei Flüsse bilden die Lebensader: der Euphrat und der Tigris. Daher der Name "Zweistromland". Ihnen verdankt diese Landschaft die Blüte einer neuen Kultur. Eine Stadt, die weit über die Grenzen des Landes hinaus Bedeutung erlangte, war Babylon. Die ganze Kultur benannte man sogar nach ihr: Die babylonische Kulturepoche.

Sowohl Ägypten also auch Babylonien brachten eine der ersten Schriften und bedeutende Denkmäler hervor. Beide Kulturen waren Uferkulturen, die dem Wasser eines Flusses ihr Leben verdankten. Sie führten den steten Kampf zwischen Wasser und Dürre. Trotzdem unterschieden sie sich doch sehr. Schauen wir uns dies genauer an.

 

Ägypten

Ägypten war eine isolierte Welt. Wüstengebirge und Sandflächen geschlossen diesen schmalen Streifen fruchtbaren Landes ein und bildeten seine natürlichen Grenzen. Von außen kamen nur Karawanen mühsam in diesen Lebensraum. Sie mussten aber zuerst die Todeszonen des sengenden Wüstensandes durchqueren. Die ägyptische Kultur darf also zunächst relativ ungestört heranwachsen. Man brauchte nicht die Gedanken mit einer Außenwelt zu tauschen, man befand sich nicht in Konkurrenz oder Wettstreit. Es war zunächst eine Kultur der Bauern. Erst der Pharao, der Unter- und Oberägypten einte, hauchte dieser Kultur ihre höheren Ziele ein. Das innere Auge war jedoch stets in die Vergangenheit gerichtet. Ägypten liegt, seinem eigenen Grabmal gleichend, in stummer Majestät hinter den Mauern der Vereinsamung.

Aus dieser überragenden Stille des Alleinseins rettet sich die Seele des Landes zu jener einzigen Insel, die wie ein Abbild der Ewigkeit im Meere des Vergänglichen aufragt: zum Stein, zur Unzerstörbarkeit des Felsens. Die Ägypter türmen den Stein zu ihren Pyramiden auf, denen scheinbar der Zahn der Zeit kaum etwas anhaben kann.

 

Mesopotamien

Ganz anders in Mesopotamien. Im Land zwischen den Strömen gibt es nämlich gar keinen Fels, der unzerstörbar inmitten des flutenden Daseins stünde. Stattdessen nahm man einen anderen Baustoff, der die Zeiten nicht überdauerte. Aus dem Lehm der Flüsse formte man Ziegeln. Hiermit errichtete man die Heiligtümer, Paläste und Häuser. Heute findet man dort noch flache Lehmhügel, die als schwache Welle in den Ebenen liegen. Sie deuten uns die Orte einstiger Größe an. Noch immer findet man Tonscherben und Tafeln, Siegelzylinder mit Keilinschriften und ein paar glasierten Ziegelbilder.

Die Babylonier lebten in dem Bewusstsein, nicht dauern zu können, zerfallen zu müssen wie der Ton, aus dem die Steine der Paläste und Tempel geformt waren. Die grausige Erkenntnis des unentrinnbaren Loses ist der Preis, den der Mensch für den Fortschritt der Kultur bezahlt. Je mehr sich das Denken aus der Bindung an die Einheit der Schöpfung löst, um so klarer wird die tragische Situation des Daseins. Der Mensch empfindet seine Einsamkeit unter dem lastenden Firmament, das Wissen um die Unabänderlichkeit seines Geschickes überfällt ihn, und unentrinnbar öffnet sich vor ihm das finstere Tor des Todes.

 

Der Held Gilgamesch, als Vertreter dieser Kulturepoche, singt seinen Klageruf aus der tödlichen Wüste:

»Ich fürchte mich vor dem Tode, deshalb hetze ich durch die Wüste.
Das Schicksal meines Freundes liegt schwer auf mir. Werde auch ich, wie er, mich niederlegen müssen, ohne je wieder aufzustehen in alle Ewigkeit?«

Anders als in Ägypten bleibt Mesopotamien, dem Land ohne Fels und Stein, nur die Insel des Geistes. In Babylonien bildet sich daher die große Schule der Geisteswissenschaft. Seine offenen Grenzen verstärken den Austausch mit Neuem und Anderem. Fremder Völker reiben, bilden, befruchten und ergänzen diesen Kulturraum, so dass der Blick in die Vergangenheit hier gar nicht möglich ist, wenn man denn nicht hinweggefegt werden will.

So mögen Ägypten und Mesopotamien äußerlich gesehen ähnliche Voraussetzungen haben, innerlich stehen sie ganz gegensätzlich zueinander. In Ägypten herrscht Ruhe, die Isolation, der Stein, die Vergangenheit - in Mesopotamien die Bewegung, die Durchmischung, der Ziegel, die Auseinandersetzung mit dem, was kommen wird.