Frage und denke!

Aus: „Die Kultur der Verstandesseele - Griechenland" von Frank Teichmann, Freies Geistesleben.

Orakelstätten gab es viele in Griechenland. Es waren dies die­jenigen Orte, die, typisch für ihre Zeit, denjenigen Hilfe geben konnten, die zwar schon fragen, die Probleme aber noch nicht selbstständig lösen konnten, weil ihnen die Sicherheit im Den­ken noch fehlte. In noch älteren Zeiten brauchte man keine Orakel. Die Zusammenhänge, in denen man lebte, waren gott­gegeben, die Wege, die man zu gehen hatte, waren bekannt und die Ziele bestimmt, so dass man nirgendwo auf die Idee verfal­len wäre, die Verhaltensweisen zu hinterfragen und eigene Ziele zu verfolgen. In dem Moment jedoch, als man anfing, selber zu denken, wünschte man sich, sofern man sich seiner Sache nicht sicher war, eine Hilfe oder eine Bestätigung von außen. Und die gab das Orakel.

Vor dem Hintergrund der allmählichen Entwicklung des Denkens bei den Griechen ist auch die Entwicklung des Ora­kelwesens verständlich. Waren es zunächst nur wenige, die überhaupt Fragen stellen konnten - in der Regel vor allem die Herrschenden -, so nahm ihre Zahl doch bald zu, so dass das Orakel immer häufiger konsultiert wurde. Anfangs konnte es nur einmal im Jahr, am Geburtstag des Gottes, befragt werden, dann aber antwortete es jeden Monat und schließlich fast je­den Tag - ein deutlicher Spiegel der aufkeimenden Verstandes­tätigkeit. Allerdings sind im Laufe der Zeiten auch immer ein­fachere Fragen zugelassen worden. Ging es zuerst noch um die Geschicke von Völkern und Staaten, deren Führer nicht leicht­fertig ihre Meinungen durchsetzen wollten, so trat doch bald schon die persönliche, oft auch egoistische Frage in den Vor­dergrund.

Ist es «heilsamer und besser» eine Reise zu Schiff zu unternehmen, sich mit dieser oder jener Frau zu verheiraten, sein Geld dort oder hier anzulegen oder Ähnliches - das sind dann die Probleme späterer Zeiten. Doch der Gott antwortete jedem Frager. Ob er arm oder reich, von hoher oder niedriger Abkunft war, ob Grieche oder Barbar, keiner wurde mit seinem Anliegen abgewiesen oder auch nur bevorzugt behandelt. Das großzügige Opfer eines reichen Königs wurde nicht höher be­wertet als die armselige Spende einiger Körner Getreides eines armen Bauern. Gar manche Anekdote erzählt von der für antike Verhältnisse kaum verständlichen Gleichheit der Menschen vor dem Orakel Apollons. Diese Zuwendung des Gottes zu allen Menschen erweckte in diesen ein ungeheures Vertrauen in sein Wirken, welches sich auch durch Jahrhunderte hindurch nicht erschüttern ließ.

Dieses Vertrauen ist angesichts mancher Antworten der Pythia doch sehr erstaunlich! Auf einer einzelnen Aussage eines zeitbedingten Spruches kann es nicht beruhen. Denn meist ist diese dem Fragesteller unbequem und nur in den seltensten Fällen klar. Ihre Mehrdeutigkeit gehört sogar zu den Eigen­heiten des Orakels von Delphi. Als Beispiel diene der berühmte Spruch, den der Lyderkönig Krösus auf die Frage empfing, ob er gegen die Perser zu Felde ziehen und ob er Bundesgenossen für den Feldzug suchen solle. Die Pythia antwortete: «Wenn Krösus gegen die Perser zu Felde zöge, würde er ein großes Reich zerstören.» Als Krösus dann die Perser bekämpfte, dabei aber Sieg und Land verlor, schickte er anklagende Boten nach Delphi zudem «undankbaren Gott» und seiner «falschen» Prophetin, obwohl er ihm doch vorher reiche Weihgeschenke gespendet hätte. Die Pythia wies die Anklage jedoch weit von sich, denn Krösus habe «den Orakelspruch nicht verstanden und auch nicht weiter gefragt». Offenbar sind nur die wenigsten Ant­worten des Orakels so klar formuliert gewesen, dass man sie ohne eigene Deutung sofort in die Tat hätte umsetzen können. Nur ein Hinweis wurde gegeben, den dann das eigene Denken erst auslegen musste. «Der Herr, dem das Orakel von Delphi gehört, spricht nicht aus und verbirgt nicht, sondern gibt ein Zei­chen», sagt Heraklit. Ein solches Zeichen bedarf der Interpre­tation durch den Menschen, für den die Antwort bestimmt ist. Ohne diese ist ein gegebener Orakelspruch wertlos oder jeden­falls nicht verständlich. Das delphische Orakel übernahm also niemals die Verantwortung für die Taten der Ratsuchenden, es wies sie vielmehr auf sich selbst zurück und förderte damit das eigene Denken.

Hier wäre wieder, von heute aus gesehen, ein Missverständnis möglich: Weil es eben die Zukunft nicht wusste, so sagt man, hätte das Orakel zweideutige Antworten verfasst. Doch nichts ist falscher als diese Meinung. Denn die Priester von Delphi haben, wenn es darauf ankam, sehr wohl genau Bescheid gewusst, wie die Prüfungsveranstaltung des Krösus zeigt. Dieser hatte nämlich, um die zuverlässigsten Orakelstätten herauszu­finden, seine Leute mit folgendem Auftrag ausgeschickt: «Sie sollten vom Tag ihrer Abreise an die Tage genau zählen und am hundertsten Tage bei den Orakeln anfragen, was jetzt der König der Lyder, Krösus , Alyattes' Sohn, täte. Die Antwort, die die ein­zelnen Orakel auf die Frage erteilten, sollten sie aufschreiben und ihm zurückbringen. [...] Als aber die Boten auch nach Delphi kamen und in das heilige Gemach traten, um den Ausspruch des Gottes zu hören, da antwortete die Pythia auf die Frage, die sie in Kroisos' Auftrag stellten, mit folgenden Hexametern:

„Weiß ich doch, wie viel Sand am Ufer, wie weit auch das Meer ist, Höre ich doch des Stummen Gespräch und des Schweigenden Worte! Schildkrötenduft erreichte mich wohl, des gepanzerten Tieres, Kochend mit Fleisch zusammen vom Lamme in eherner Pfanne; Erz umschließt es von allen Seiten, so oben wie unten."

Diesen Spruch der Pythia schrieben die Boten aus Lydien auf und kehrten heim nach Sardes. Als nun auch die anderen Boten mit den Orakelsprüchen zurückgekehrt waren, entfaltete Krösus die Schriftrollen und las. Keiner der Sprüche fand seine Zustim­mung, nur als er die Antwort aus Delphi vernahm, pries er sie sogleich und erkannte sie als richtig an. Allein in Delphi, sagte er, gäbe es ein wahrhaftiges Orakel, denn es habe erraten, was er da­mals getan. Als er nämlich die Boten ausgesandt hatte, gab er Acht auf den festgesetzten Tag und ersann nun etwas, was unmöglich zu erraten war: Er zerschnitt eine Schildkröte und ein Lamm und kochte sie zusammen in einem ehernen Kessel, auf den er einen ehernen Deckel legte.»

 

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In der griechischen Kulturentwicklung ist die Entstehung des Denkens als allgemeine menschliche Fähigkeit zu be­obachten. Wie dies geschah und welche Folgen sich daraus ergaben, schildert Frank Teichmann an einzelnen charakteris­tischen Texten und Bildern. Mit dem Auftreten des Denkens entwickelte sich zugleich eine innere Welt der allgemeinen Begriffe. Die gesamte antike Kultur erscheint dadurch in einem neuen Licht.

Das Seelenleben des Menschen in der heutigen Zeit ist ein vielfältig gegliedertes: Immer noch antwortet die Empfindungsseele auf die Reize der Sinneswelt und prägt un­ser gewöhnliches Verhalten, doch müssen wir ihr nicht mehr unbedingt Folge leisten. Noch immer reflektieren und planen wir unbekümmert mit unserer Verstandesseele mancherlei Taten, die jeder von uns im Alltag zu bewältigen hat. Doch auch ihr müssen wir nicht mehr fraglos folgen. Wir können uns ihr gegenüberstellen, können unsere eigenen Gedanken anschauen, uns unter Umständen sogar von ihnen distanzieren und, wenn wir Irrtümer finden, diese auch noch korrigieren, ohne dass unser Selbstbewusstsein im mindesten darunter litte. Empfindungsseele, Verstandesseele und Bewusstseinsseele wirken heute im Seelenleben des Menschen zusammen, aber dem unterscheidenden Blick zeigen sich ihre verschiedenen Herkünfte und ihre verschiedenen Aufgaben. Wenn wir hier die Verstandesseele, wie sie sich in Griechenland entwickelt hat, betrachtet haben, so geschah das keineswegs nur um his­torischer Gründe willen. Der Autor dachte vielmehr an den Nutzen, den ein heutiger Leser davon haben kann, wenn er den Griechen in sich entdeckt, ihn kennenlernt und ihn viel­leicht sogar dann überwinden will. Er denkt dann mit Thukydides: «Wer also wissen will, wie es wirklich gewesen ist und also, bei der Natur des Menschen, in Zukunft immer wieder so oder so ähnlich zugehen wird - wenn so einer das Buch nützlich findet, so soll mir das genügen.»

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