Das Land der Toten
Der am weitesten verbreitete Glaube suchte die Totenwelt im Westen, dort, wo der Sonnengott allabendlich in sein Grab hinabstieg, und die „Westlichen" wurde so für die Ägypter zu einer ganz gewöhnlichen Bezeichnung der Toten. Wo man irgend konnte, legte man die Friedhöfe am Rande der westlichen Wüste an. Dort lag die Unterwelt, in der die Toten lebten, auf die allabendliche Rückkehr der Sonnenbarke harrend, um in den Strahlen des Sonnengottes zu baden.
Wenn er dann endlich erschien, ergriffen sie das Tau seines Schiffes und zogen es jubelnd durch die dunklen Höhlen der ,,Duat". ... Noch häufiger sprachen die Ägypter von einem Feld im Nordosten des Himmels, das sie das „Speisenfeld" oder auch das „Earufeld" (Binsenfeld) nannten, wo das Korn höher wuchs, als man es je an den Ufern des Nils gesehen hatte, und wo die Verstorbenen in Sicherheit und Überfluss lebten.
Außer den Erzeugnissen dieser himmlischen Gefilde empfingen die Toten aber auch die irdischen Opfer, die im Tempel ihres Gottes dargebracht wurden: Brot und Bier und feines Leinen. Aber nicht jedem glückte es, das Feld der Seligen zu erreichen, denn es war von Wasser umgeben. Einige mochten wohl auf den Schwingen eines Falken oder eines Ibis hinübergetragen werden, anderen brachten vier freundliche Geister, die „Söhne des Horus" ein Floß, mit dem sie überfahren konnten, und wenige Auserwählte fuhr gar der Sonnengott selbst in seiner Barke hinüber. Die meisten aber vertrauten auf die Dienste eines Fährmanns, der hieß „Wendegesicht" oder „Schauzurück", weil er beim Rudern immer rückwärts seinem Ziel zublickte. Er nimmt nicht alle in seinem Boote auf, sondern nur die, von denen es hieß „da ist kein Übel, das sie getan haben" ..., oder den, „der gerecht ist vor dem Himmel und der Erde und vor der Insel", auf der das Gefilde der Seligen liegt, zu dem sie fahren.
Wir haben hier die ersten Spuren von einer sittlichen Prüfung am Schluss des Lebens, die das Leben im Jenseits von dem Verhalten während des irdischen Lebens abhängig macht. Ein Vornehmer aus der 5. Dynastie betont mit Nachdruck, dass er nie alte Gräber geplündert habe. Er sagt in seiner Mastaba: „Ich habe dieses Grab gebaut als ein gerechtes Eigentum, und nie habe ich etwas genommen, was einem anderen gehörte ... nie habe ich irgendjemandem Gewalt angetan." ... Aber nicht immer beriefen sie sich nur auf negative Tugenden. Ein vornehmer Mann aus Oberägypten, am Ende der 5. Dynastie, sagt: „Ich gab den Hungrigen in meinem Gau Brot, ich kleidete alle, die darin nackend gingen ..., ich verkürzte nie einen Menschen in seinem Besitz, so dass er deswegen Klage gegen mich führte vor dem Gott meiner Stadt. Es gab (in meinem Gau) nie einen Menschen, der sich fürchtete vor einem, der stärker war als er, so dass er deswegen vor dem Gott hätte Klage führen müssen".
Die aber als sündig erkannt sind, werden gewiss irgendwie bestraft, und zwar durch jene 42 Richter, die so schreckliche Namen tragen wie: „Gedärmefresser, Schattenfresser, Knochenbrecher, Blutfresser, Weitschritt, Wendekopf, Flammenauge, Flammenatem, Feuerbein, Weißzahn".