Plastizierprojekt Landschaft

Silke Speckenmeyer (Werklehrerin) und Christine Gaide (Klassenlehrerin) von der Freien Waldorfschule Köln.

„Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst."

Johann Wolfgang von Goethe

Die Idee, mit der 5. Klasse zu plastizieren, entstand im Rahmen einer Mobbing-Prävention. In der Freien Waldorfschule Köln existiert ein Arbeitskreis, der sich das Thema Streitprävention zu Eigen gemacht hat. Unser Anliegen war, die Entwicklung einer positiven Streitkultur voranzutreiben und den Schülern auf künstlerischem Weg neue Begegnungsmöglichkeiten zu bieten. Angeknüpft an die Erdkunde-Epoche mit den Schilderungen der natürlichen Landschaften und Kulturformen bot sich das Plastizieren einer Landschaft als ideales Übungsfeld des sozialen Miteinanders an.

Alle Kinder der Klasse sollten die Möglichkeit haben, in einer gemeinsamen schöpferischen Tätigkeit einander zu begegnen. Es war offenkundig, dass ein sozialkünstlerisches Projekt dieser Größenordnung unmöglich in einem Klassenraum an Schultischen entstehen konnte.

Wir benötigten Raum für dieses prozessorientierte Arbeiten. 35 Kinder sollten sich ausbreiten dürfen und mit ihnen die entstehende Landschaft! Die dafür organisch gesägte Holzplatte (12 qm) bot dynamische Arbeitsplätze für alle Kinder. Durch vier gesägte Löcher konnten sogar 360 Grad Arbeitsplätze geschaffen werden.

Aus vorhergehenden Epochen wussten die Klassenlehrerin, Christine Gaide, und ich um die Beweglichkeit der Klasse mit dem Material Ton. Die Kinder wurden beim Anblick dieser riesigen leeren Arbeitsfläche von Tatkraft erfasst und konnten es kaum abwarten diese Fläche zu füllen.

Zu Beginn hatte jedes Kind einen Batzen Ton in der Hand. Nun hieß es, Flocken zu rupfen und diese auf der dadurch langsam verschwindenden Holzfläche zu verstreichen. Der Ton - der gesprochene wie der zu plastizierende - verdichtete sich.

Viele Vorstellungen, Visionen und Ideen tauchten auf, wie diese Landschaft gestaltet werden könnte. Es wurden Arbeitsgruppen gebildet:

Das Gebirge, die Stadt, die Wüstenoasen, der Vulkan, die Anderswelt und das Wasser. Es ging schnell und selbstverständlich voran, ein großzügiges Arbeiten entwickelte sich, jeder sprach mit jedem. Die Schüler, die im Laufe der Treffen ihre Arbeitsgruppen auch wechselten, fanden im gegenseitigen Prozess Mittel und Wege, ihre Ideen auszutauschen. Es wurde laut überlegt: Wie hoch denn wohl das Haus sein müsse, wenn nebenan das Gebirge stünde? Konnte der Vulkan sich wirklich entsprechend in seiner Größe ausbreiten? Wie dachten die anderen? Wie dachte der Einzelne? Wie spielte das alles zusammen?!

Sanft intervenierten Frau Gaide und ich - vor allem auch, um Blickwinkel zu verändern - um Schüler ins Gespräch zu bringen. Behutsam wurden die Kinder dahin gelenkt, dass es bei dieser Arbeit nicht um das „Recht des Stärkeren" ging, sondern dass sie selber sahen, wie sich die Dinge entwickeln „wollten".

Prozessorientiertes Arbeiten entstand durch den angeregten Austausch der Schüler untereinander. Ja, das war beschwerlich, das Ringen um und mit der Form.

Aber wer ein Plastiker ist, weiß: dem Material können wir vertrauen! Der Ton gab die Antwort. Er gab nach, ohne sich aufzugeben, genau diesen Charakter verinnerlichten die Kinder nach und nach. Diesen Lernprozess im sozialen Miteinander wollten wir erreichen: Die Kinder erlebten sich selbst in der Auseinandersetzung, sie verloren sich nicht und sie blieben auch offen für neue Möglichkeiten.

Christian Breme stellt diese soziale Interaktion wie folgt dar: „Jeder kann seine eigenen Impulse ausgestalten und dabei die Impulse und Bedürfnisse der anderen im Auge haben. Soziale Impulse können auf verschiedenste Weise ausgestaltet werden: als Verbinden von Getrenntem, als Aufeinander-zu-Bauen, als Hilfestellung, als gemeinsame Planung, als Teamwork."

Der Hauptunterricht begleitete das Plastizieren. Inspiriert durch das Erschaffen ihrer Landschaft malten die Kinder Karten mit dazugehöriger Legende. Und natürlich kam die Frage auf, wie real denn die Entfernungen überhaupt sind?! Für einige Kinder lagen Gebirge und Vulkan 5 km auseinander - andere reagierten spontan empört und sprachen von 500 km. Wie war das noch bei Goethe:

„Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst."

Die Kinder spürten, dass es jetzt wichtig war, eine Ausgeglichenheit zu erschaffen. In der Art wie die Landschaft wuchs und beweglich in Größe und Weite aufeinander Bezug nahm, so nahmen die Kinder wahr, dass sie einer höheren Sache „dienten". Das gemeinschaftliche Werk stand im Vordergrund. Sichtbar wurde dies in der Ausgewogenheit der Landschaft, sie „legte" sich auch nach und nach auf die Arbeitsatmosphäre.

Die soziale Interaktion während des Plastizierens durchlief die verschiedensten Phasen: Konzentration, Beleidigtsein, Ruhe, Diskussionen, Wut, innere Einkehr und das Aufeinandertreffen von abstrakten Ideen! Inmitten dieser schöpferischen Auseinandersetzung wurden Kompromisse gefunden, dies schafften die Kinder fast alleine!

Gemeinsame Betrachtungen aus verschiedenen Perspektiven unterstützten den Blick für das Ganze. Der Ton war geduldig, jedoch nur zu denken reichte nicht! Es mussten Plastiken geschaffen werden, die in die Welt gestellt wurden. Denken, Fühlen und Wollen waren gleichermaßen angesprochen.

Um den Kindern den Gedanken, dass Kunst entsteht und Kunst vergeht, nahe zu bringen, stellten wir ihnen im Laufe des Projekts die vergängliche Landart-Kunst von Andy Goldsworthy vor. Goldsworthy überlässt seine schöpferischen „Einmischungen" der Natur, die ihm sein Material anbietet. Aus meiner künstlerischen Arbeit weiß ich, dass ein wichtiger Erfahrungsprozess das Loslassen ist. Wir hätten an dieser Landschaft noch lange weiterbauen können... „Fertig" wurde sie nicht. Wichtig war der Prozess, und der war für uns alle intensiv.

Leider ließ es der Schulalltag nicht zu, unser Werk langsam vergehen zu lassen. An einem Punkt mussten wir in die Zukunft blicken und uns den Realitäten stellen: Wir mussten abbauen! Den Kindern war das erstaunlich schnell klar. Sie betrachteten ihr Werk ausführlich und als dann genug geschaut und auch fotografiert worden war, bauten wir die Landschaft zurück, d. h. der Ton wurde achtsam in seinen Urzustand zurückversetzt und steht heute als Materialangebot in unserer OGS.

Unser Plastizierprojekt war Momentaufnahme, ähnlich den Sandburgen von Kindern am Strand, die mit der nächsten Flut vergehen und dann - irgendwann wieder neu erbaut werden. Denn: Leben heißt sich entwickeln, Entwicklung heißt Wandel.

Diese 5. Klasse ist nunmehr eine 6. Klasse und nicht nur die Kinder, auch die Eltern, sind eine Schicksalsgemeinschaft, die sich gefunden hat. Unsere Kinder werden sich in ihrem Sozialverhalten weiter entwickeln. Dabei haben auch die Eltern die Aufgabe in der gemeinsamen Arbeit, den eigenen Anteil am sozialen Miteinander der Kinder zu erkennen. Denn: „Jede Erziehung ist Selbsterziehung, und wir sind eigentlich als Lehrer und Erzieher nur die Umgebung des sich selbst erziehenden Kindes. Wir müssen die günstigste Umgebung abgeben, damit an uns das Kind sich so erzieht, wie es sich durch sein inneres Schicksal erziehen muss."

Abschließend möchte ich an dieser Stelle Christian Breme danken. Seit Jahren inspiriert mich seine lebendige Arbeit, wie auch die Schriften von Hella Loewe!

Ein besonderer Dank auch an den Werklehrer Benno Schlüter und den Haustechniker Heiner Saar. Ohne deren Hilfe hätten wir das Projekt so nicht durchführen können. Herzlichen Dank auch an den goldigen Rest!

Silke Speckenmeyer (E) und Christine Gaide (L)

 

Literaturhinweise:

Christian Breme, Wieder Erde in die Hand nehmen, Basel 2012 Hella Loewe, Elementares plastisches Gestalten, Stuttgart 2004 Anke-Usche Clausen und Martin Riedel, Plastisches Gestalten für alle Altersstufen, Stuttgart 1995