Der Parzivalstoff in der 11. Klasse

Aus der Festschrift 2004 der Freien Waldorfschule Freiburg-Rieselfeld geschrieben von Sabine Arenz

Das zentrale Thema im Deutschunterricht der 11. Klasse könnte mit dem Satz »Suche dein eigenes Lebensmotiv« beschrieben werden. Es greift damit die Entwicklungssituation der etwa 18-Jährigen auf, die nach der eher wilden und stark gruppenbezogenen Zeit in der neunten Klasse und einem gewissen Rückzug in der zehnten nun beginnen, im Gefühlsbereich Sicherheit zu entwickeln, den persönlichen Neigungen mehr Bedeutung beizumessen als den Ansichten der Gruppe und insgesamt das eigene Individuelle herauszuschälen. Auch die Bedeutung des Spirituellen kann in diesem Alter erstmals persönlich begriffen werden.

Literarisches Herzstück dieser Jahrgangsstufe bildet Wolfram von Eschenbachs 800 Jahre altes und im Original mittelhochdeutsches Werk »Parzival«. Vordergründig ein Ritterroman von bunter Vielfalt - tragisch, komisch, romantisch, abenteuerlich, philosophisch-theologisch - bietet das Werk eine aktuelle Thematik: Es geht um die Frage individueller Entwicklung, um die eigene Lebensgestaltung. Angefangen bei den elterlichen Lebenswegen gehören Parzivals Erziehung durch Mutter und Lehrer, seine groben Jugendsünden, das Erreichen erster großer Ziele, das absolute Scheitern und die gesellschaftliche Ächtung noch zu den augenscheinlich von außen bestimmten Elementen dieses Weges. Sie führen zu einem scheinbar sinnlosen Umherirren in der Welt, gedrückt durch tiefste Zweifel an sich selbst und an einer göttlichen Instanz, und bringen den Ritter schließlich zum Einsiedler Trevrizent, der ihm die Umkehr ermöglicht und ihn zu sich selber finden lässt.

Alle Stationen dieses Lebens bieten Stoff für zahlreiche Diskussionen: ob es Fragen der Erziehung anhand der (über)großen Mutterliebe Herzeloydes, Parzivals Mutter, sind oder Fragen nach Sinn und Unsinn des jugendlichen Übermutes; ob es um das Thema einer gesellschaftlichen Moral geht, deren zu starre Regeln im Zweifelsfall zu Katastrophen führen können oder um die Frage nach dem Richtigen oder Falschen im Leben überhaupt; schließlich die große Frage nach Schuld und Vergebung, die in unserem christlichen Kulturkreis von existenzieller Bedeutung ist.

Im günstigen Fall kann in einer Parzivalepoche eine Stimmung entstehen, die alle diese Themen aufleben lässt und so die Rätsel des menschlichen Lebens - in der heutigen Zeit durch die oft einseitige mechanistisch-wissenschaftliche Betrachtung entzaubert - ins Zentrum stellt. So hat der Lehrer zahlreiche Möglichkeiten, seine Schüler zum Denken, Nachdenken und die Gedanken in Worte zu fassen zu ermutigen.

In der Parzivalepoche der letztjährigen 11. Klasse hatten die Schüler unter anderem die Aufgabe, frei gewählte Themen zu bearbeiten, die in irgendeiner Weise dem großen Fundus des Parzivalstoffes entstammen. Der Radius war bewusst sehr freilassend gewählt, sowohl was die Thematik als auch die sprachliche Umsetzung betraf. So entstanden z.B. gleichwohl ein Sachtext zur Wappenkunde wie eine selbsterdachte Geschichte über einen jungen Knappen, der Ritter werden wollte.

Die Gralsburg, Schülerzeichnung

 

 

Drei Beispiele möchten wir hier abdrucken: das erste ein Aufsatz zum Thema Erziehung heute, das zweite eine Inhaltsangabe des Werkes und das dritte eine Darstellung der Todsünde Trägheit.

 

Lasst den Kindern ihre Kindheit

Der Kindheit ist eine Verträumtheit zu eigen, welche Raum und Zeit beansprucht. Eine langsame Bewegung von einem Ding zum nächsten, die durch Zeitdruck genommen wird. Kinder werden heute vielfach zu früh dazu gedrängt, selbstständig zu werden, weil das für ihre Eltern wichtig ist.

Manche Eltern sind nur in der Lage, Nähe und Verbundenheit zu empfinden, wenn ihre eigenen Schmerzen und Verletztheiten vom Gegenüber aufgefangen werden. So werden Kinder unbewusst dazu gebracht, den Schmerz ihrer Eltern zu teilen oder sogar zu tragen. Ohne dass es eine bewusste Absicht ist, versuchen manche Eltern ihre Kinder dazu zu bringen, sich auf ihre emotionalen Bedürfnisse einzustellen. Dies geschieht oft, ohne dass darüber gesprochen wird. Das Kind übernimmt also eine Rolle, die eigentlich die der Eltern ist, und versucht mitfühlend auf ihre emotionalen Probleme, Schwierigkeiten und ihren Stress einzugehen.

Indem ein solches Kind als Vertrauensperson der Eltern fungiert, lernt es, sich auf die Bedürfnisse anderer zu konzentrieren und die eigenen zurückzustellen und zu vernachlässigen. Der Sohn wird dann zum »guten Jungen«, die Tochter zum »guten Mädchen« - auf Kosten der eigenen Gefühle, der eigenen inneren Wirklichkeit. Um sich selbst nicht ganz aufzugeben, haben Kinder oft keine Wahl, als in sehr extreme Reaktionen zu verfallen. So beginnen sie zum Beispiel, ihre Eltern völlig abzulehnen, wegzulaufen oder sich zu isolieren und sich völlig in sich selbst zurückzuziehen.

Kinder müssen ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln, bevor sie sich auf eine Weise um andere kümmern können, die ihnen selbst nicht schadet. Sie müssen zunächst spüren, wie sie sich fühlen, was sie brauchen und was sie wollen. Ebenso müssen sie lernen auf angemessene Weise zu kommunizieren. Die Aufgabe der Eltern ist es, sich wirklich wie Erwachsene zu verhalten und auf die Bedürfnisse ihrer Kinder angemessen einzugehen. Wenn Eltern das tun, haben ihre Kinder die Möglichkeit, sich frei zu entwickeln und ohne alte Bürden in den Kontakt mit Menschen zu treten.

Die psychologische Forschung hat mittlerweile herausgefunden, dass es Menschen sehr schwer fallen kann, ihren Kindern oder sich selbst etwas zu geben, wenn ihre eigenen Eltern ihre emotionalen Bedürfnisse nicht erfüllt haben. Dieser Kreislauf kann sich von Generation zu Generation wiederholen. Wir haben die Möglichkeit, diesen schrecklichen Teufelskreis zu durchbrechen, so dass Eltern zu Eltern werden und ihre Kinder wirklich Kinder sein können.

Auf diese Weise entsteht ein Prozess des Gebens und Nehmens. Eltern geben ihren Kindern etwas mit auf den Weg und diese wiederum geben ihren Kindern etwas.

Das erfordert ein gewisses Maß an Selbstlosigkeit. Wer sich jedoch zu dieser überwinden kann, hat die Möglichkeit, sich zusammen mit dem Kind zu entwickeln: die Welt und sich selbst noch einmal neu zu sehen und zu entdecken, Schmerzen zu lindern, Wunden zu heilen. Und es entsteht nicht zuletzt die unglaubliche Möglichkeit und verantwortungsvolle Aufgabe, der Welt einen gesunden Menschen zu schenken.

Lisa B. (Schülerin)

 

Eine Inhaltsangabe

Parzivals Vater ist Gachmuret, ein erfahrener fahrender Ritter, der mit seiner ersten Frau (Belakane) einen Sohn hat (Feirefiz) und mit der zweiten (Herzeloyde) den vielversprechenden Parzival bekommt, bevor er auf einer seiner Fahrten umkommt. Herzeloyde bleibt nur noch um Parzivals willen am Leben und stirbt dann auch prompt, als dieser sie verlässt, um in die Welt zu ziehen und Ritter zu werden. Von seiner Mutter, die verhindern wollte, dass er wie sein Vater endet, naiv gehalten, bricht er auf und richtet mit seiner Tumbheit einigen Schaden an. Von einem alten Ritter, Gurnemanz, bekommt sein dürftiges Gestell aus Lebens- und Benimmregeln eine Generalüberholung, und so gestärkt macht er sich auf und befreit eine Stadt von der Belagerung. Die Königin, Kondwiramurs, wird seine Frau, doch er zieht bald weiter. Fr findet die Gralsburg, ist aber unfähig die Frage zu stellen, deswegen wird er am nächsten Morgen unsanft hinausgeschmissen, später sogar noch verflucht. Er wird in die Artusrunde aufgenommen - die Erfüllung seines Kindheitstraumes, doch er will jetzt nur noch den Gral finden, um sein Missgeschick wieder gutzumachen. Hilfe und Unterstützung findet er bei Trevrizent, der ihm religiöse Einsichten vermittelt, ihn über den heiligen Gral aufklärt und schließlich von seiner Schuld freispricht. Er trifft auf seinen Bruder Feirefiz, und sobald sie sich erkannt haben, gehen sie zusammen zum Artushof, wo Feirefiz zum Artusritter geschlagen wird. Und nun wird Parzival zum Gral beordert, heilt den König durch die erlösende Frage, wird zusammen mit seiner Frau Kondwiramurs, die inzwischen Zwillinge bekommen hat, zum Gralskönig ernannt und freut sich. Feirefiz geht getauft nach Indien.

Victor K. (Schüler)

 

Trägheit - eine der sieben Todsünden

Das Summen des Deckenventilators, der beständig die träge Luft durchschraubt und sie wie Orangenschalen schneidet, geht Hand in Hand mit der bedrückenden Stille.

Er verteilt den aufsteigenden Zigarrenrauch gleichmäßig im Raum und taucht so alles in ein trübes Licht. Er entzieht der Luft und der Stimmung jegliche Feuchtigkeit.

An den Tischen rührt man gelangweilt in kalt werdendem Kaffee, Blicke verlieren sich in diversen Getränken, als könnte man so den tristen Gesprächen entfliehen. Ich erhebe mich langsam von meinem Barhocker und versuche leise zu sein, denn jedes geringste Geräusch würde alle Aufmerk-samkeit auf mich ziehen. Ich gehe durch den Raum zur Tür. Wässrige Blicke folgen meinen schleppenden, schlurfenden Pantoffeln und mir, vorwurfsvoll und nichtssagend.

Als ich hinaustrete, schlägt mir die heiße Luft gegen den Atem und die Sonne springt mir aggressiv in das Gesicht. Ich stelle mich in den schwarzen Schatten der Bar, mit meinem Glas Cognac in der Hand. Die Straße ist staubig leer, es ist Mittag. Sogar der Hund, der bis jetzt in der Sonne gedöst hat, entzieht sich meinem Blick und trottet in einen Hinterhof.

Enttäuscht schlurfe ich wieder in die Bar. Die künstliche Ventilatorluft scheint mir erfrischend, nur für einen Moment.

Langsam gehe ich an die Theke und bestelle den nächsten Cognac.

Laura P. (Schülerin)