Eine geniale Intuition
Ein Beitrag von Marcus Kraneburg
Der Flaschenzug ist eine unglaubliche Erfindung. Vertieft man sich in seine Funktionsweise, so kann man sich fragen, wie man auf so eine Idee eigentlich kommt? Sie ist ja alles andere als naheliegend. Im Nachhinein lässt sich der Flaschenzug wunderbar verstehen. Wie man allerdings seine Grundidee ohne ein Vorbild ersinnt, ist nicht so leicht zu erklären.
Möchte man aus einem Brunnen einen Eimer voll Wasser heben, so kann man das Seil Stück für Stück hinaufziehen. Wenn man hingegen das Seil über eine Stange lenkt, so erleichtert dies die Arbeit, da man eine bessere Arbeitsposition einnehmen kann. Allerdings muss man auch mehr Kraft aufwenden, weil der Reibungswiderstand des Seils durch die Stange hinzukommt. Der Einsatz einer Rolle minimiert diesen wiederum.
Wie aber kommt man um Himmels Willen auf die Idee, eine zweite, lose Rolle mit ins Spiel zu bringen, die mit dem Eimer, also dem Gewicht verbunden wird? Auch wird das Ende des Seils nicht mehr an dem Eimer befestigt! Vielmehr fixiert man es an dem Gehäuse der oberen, festen Rolle. Auf diese Weise wird der Eimer nicht hinaufgezogen, sondern er wird indirekt durch das Seil gehoben.
Durch logisches Nachdenken kann man die Idee des Flaschenzugs nicht bilden. Dies gelingt nicht durch schrittweises Vorgehen oder Experimentieren. Vielmehr müssen zwei Bedingungen eintreten: Man muss die Frage nach der Kraftersparnis von einer anderen, bislang nie gedachten Seite angehen. Zweitens müssen eine Reihe von Konstruktionselementen völlig neu zusammengestellt werden. Das Entscheidende dabei ist, dass beides zeitgleich zusammenkommen muss. Fehlt eins, geht nichts.
Dies leistet nicht die Logik, sondern die Intuition. Wir überschätzen die Prinzipien der Logik bei solchen Erfindungen. Rückblickend sind Erfindungen wie der Flaschenzug außerordentlich logisch, aber wir finden sie nicht durch Logik.
Eine Intuition oder eine Idee hingegen erscheint immer ohne Ankündigung: plötzlich, durchsichtig, umfänglich. Jedes Verstehen, jede Idee ist intuitiv. Es gibt kein halbes Verstehen, keine halben Ideen und es gibt auch keine halben Intuitionen. Wenn Sie verstanden haben, wie man eine Türklinke zum Öffnen einer Tür benutzt, dann können Sie anschließend die Tür öffnen. Eine ganz andere davon unabhängige Intuition bestünde darin, den exakten Mechanismus der Türöffnung zu verstehen. Es gibt große, kleine und winzige Intuitionen – allen gemein ist: das Verstehen ist vollumfänglich.
Die praktische Umsetzung von Ideen und Intuitionen steht auf einem ganz anderen Blatt. Hier muss man tüfteln und experimentieren, sie müssen ins praktische Leben übersetzt werden. Nicht selten stößt man dabei auf Widerstände, Probleme und Schwierigkeiten. Leitstern all dessen ist aber immer die Idee, die das praktische Tun beleuchtet.
Ideen und Intuitionen kann man nicht planen. Ohne zu wissen, ob sie überhaupt eintreffen, oder wann und wo, gibt es eine Möglichkeit, für sie den Boden zu bereiten. Dies ist immer dann der Fall, wenn man sich leidenschaftlich mit einem Thema befasst. Diese intensiv-suchende Bewegung lockt Ideen, Intuitionen und Eingebungen gleichsam an.
Der Flaschenzug war eine solche geniale Intuition.