Das Projekt „Herausforderung“

Ein Beitrag von Svenja Hoyer, Heiner Freitag, Moh Portuondo Alvarez

Ein Projekt der Freien Waldorfschule Ludwigsburg - eine Alternative zur klassischen Klassenfahrt

Eine Klassenfahrt ohne Lehrer. In Kleingruppen von 2-8 Schüler(innen). Von den Schüler(innen) selbständig geplant – von der Reiseroute über die Unterkünfte bis zum Einkauf und den Mahlzeiten. Ohne Handy und mit einem Budget von 100 Euro pro Person, das für eine Woche reichen muss. Begleitet von einer erwachsenen Begleitperson, die den Schüler(innen) wie ein Schatten folgt, jedoch nur im Notfall eingreifen darf. Dies war die „Herausforderung“, der sich die Schüler(innen) der Klasse 7G der Waldorfschule Ludwigsburg im Juli 2018 gestellt haben. (Das "Projekt Herausforderung" wurde erstmals vor ca. sieben Jahren von der Evangelischen Schule in Berlin ins Leben gerufen und seitdem an verschiedenen Schulen in Deutschland umgesetzt (z.B. an der Französischen Schule Tübingen in Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg).

Der dahinter liegende pädagogische Plan: Die Fahrt sollte für jeden Schüler aus der Klasse eine persönliche „Herausforderung“ darstellen – es war erwünscht, dass die Schüler(innen) dabei den Mut entwickeln, Neues zu lernen und an die eignen Grenzen zu gehen.
 


„Kann das gut gehen?“ fragten sich die Eltern, als der Klassenlehrer sie auf einem Elternabend über das geplante Herausforderungsprojekt informierte. Nein, nicht unbedingt, lautete die Antwort des Klassenlehrers. Bei „Herausforderungsprojekten“ dieser Art zählt nicht das perfekte Ergebnis, sondern die eigenen Lernerfahrungen, die die Kinder auf dem Weg machen. Hierdurch sollen die Kinder Selbstwirksamkeit erwerben. Selbstwirksamkeit ist die persönliche Überzeugung, schwierige Anforderungen aus eigener Kraft bewältigen zu können. Aus der pädagogisch-psychologischen Forschung ist schon lange bekannt, dass eigene Erfahrungen am besten dazu beitragen, die Selbstwirksamkeit fördern. Besonders wichtig für die Ausbildung von Selbstwirksamkeit sind Situationen, in denen eine Person zunächst nicht weiß, wie sie eine Aufgabe zu lösen hat, aber durch eigene Anstrengungen nach und nach eine erfolgreiche Lösungsstrategie ausbildet. Selbstwirksamkeit stärkt Motivation und Willenskraft und fördert anspruchsvolle Zielsetzungen, Anstrengung, Ausdauer und Leistung. Heutzutage räumen Eltern ihren Kindern im Alltag viele Steine aus dem Weg. Nun galt es, diese Steine bewusst liegen zu lassen, damit die Kinder lernen, schwierige Aufgaben aus eigener Kraft zu überwinden. Nicht nur für die Schüler(innen) sondern auch für die Eltern stellte das Projekt somit eine persönliche Herausforderung dar, bei dem viel gelernt werden konnte. Galt es doch, als Elternteil loszulassen, sich weitestgehend aus dem von den Kindern selbst gesteuerten Planungsprozess herauszuhalten, möglichst keine (gutgemeinten oder warnenden) Ratschläge zu erteilen und Vertrauen in die Fähigkeiten der Kinder aufzubauen. 

Die Vorbereitungsphase auf das Projekt „Herausforderung“ erstreckte sich über mehrere Monate. Am Anfang standen von den Lehrkräften im Unterricht durchgeführte Kooperationsübungen. Hierbei konnten die Schüler(innen) die Erfahrung machen, dass sie auch scheinbar unlösbare Aufgaben gemeinsam bewältigen können. Im Unterricht und in selbständig organisierten Treffen außerhalb der Schule legten die Schüler(innen) Reiseziele und -Routen fest. Einzige Vorgabe von Seiten der Lehrkräfte, die das Projekt initiiert hatten: Die Fahrten sollten innerhalb von Baden-Württemberg stattfinden und die Schüler(innen) sollten während der Woche möglichst in Bewegung und nicht nur an einem Ort bleiben. Die Schüler(innen) erstellten ihre Packlisten selbst und organisierten benötigte Gerätschaften wie Zelte, Gaskocher und Rucksäcke. Parallel dazu galt es herauszufinden, wo sich auf der geplanten Route Übernachtungsplätze und Einkaufsmöglichkeiten finden lassen. Regelmäßig präsentierten die Kleingruppen ihre Pläne der gesamten Klasse und stellten diese den Mitschüler(innen) zur Diskussion, woraus sich manche Änderung in der Reiseplanung ergab – z.B. wenn Pläne unrealistisch erschienen, zu wenig „Herausforderungscharakter“ enthielten oder zu teuer waren. Manche Kleingruppe traf sich vorab und probte die Abläufe – z.B. das Fahrradfahren mit Gepäck, den Zeltaufbau oder das Kanu fahren. Übernachtungen wurden vorab festgelegt – auf Zeltplätzen, bei Sportvereinen, in Gemeindehäusern oder Schulen – oder aber absichtlich ungeplant gelassen, um der Reise einen stärkeren „Herausforderungscharakter“ zu geben.

Schließlich hatten alle Kleingruppen die Vorbereitung für ihre persönliche „Herausforderung“ abgeschlossen: von der Radtour um den Bodensee über das Wandern im Schwarzwald bis hin zur mehrtägigen Kanufahrt auf der Enz oder der Mitarbeit auf dem Ponyhof reichten die Pläne der Schüler(innen).
 


Interviewer: „Was habt Ihr in der Zeit der Vorbereitung auf die Herausforderungswoche gelernt?“

Schülerin 1: „Dass es ziemlich schwer ist alles alleine zu planen. Da sieht man wie schwer es Eltern haben.“

Schülerin 2: „Selbständig zu planen. Das Kanufahren.“

Schülerin 3: „Unbekannte Leute anrufen um zu fragen ob wir übernachten dürfen“.

Schülerin 4: „Wie man Reisen plant“.
 

Die Begleitpersonen und ihre Aufgaben als „Schatten“

Da die Schüler(innen) im Alter von 13-14 Jahren noch nicht alleine verreisen durften, wurde jeder Kleingruppe eine erwachsene Begleitperson an die Seite gestellt. Diese jungen Erwachsenen im Alter von 18-25 Jahren waren keine Lehrkräfte der Freien Waldorfschule Ludwigsburg, sondern kamen von außerhalb – z.B. Lehramts-Student(innen), die im Idealfall schon pädagogische Erfahrung im Umgang mit Kindern und Jugendlichen gesammelt hatten. Die Begleitpersonen hatten die Aufgabe, sich während der Fahrt wie ein „Schatten“ weitestgehend im Hintergrund halten und nur bei Gefahr einzugreifen. Sollte sich eine Gruppe beispielsweise im Weg irren, durfte die Begleitperson nicht helfen. Die Schüler(innen) sollten ihre Erfahrungen selbst machen, Scheitern dürfen und aus den eigenen Fehlern lernen – dies waren zentrale pädagogische Komponenten des Projekts „Herausforderung“.
 

Interviewer: „Wie haben Sie als Begleitperson das Projekt "Herausforderung" erlebt?“

Antwort Begleitperson: „Es war in manchen Momenten nicht nur für die Kinder eine „Herausforderung“. Ein „Schatten“ zu sein und wirklich nur in den dringendsten Situationen einzugreifen ist nicht immer leicht. Wenn ‚alltägliche’ Dinge, wie Einkaufen (nicht ganz so alltäglich, da der sperrige Wanderrucksack und die Ausrüstung für eine Woche stets dabei war ;) sich ziehen und in Diskussionen enden, braucht die Begleitperson einen sehr langen Atem. Weil unsere Erfahrungsmöglichkeiten draußen in der Natur und im Alltag (Helikopter-Eltern) immer seltener werden, war es mir ein großes Anliegen, dieses Projekt unterstützen und begleiten zu dürfen. Alles in allem war es eine sehr bereichernde und beeindruckende, kurzweilige Woche. Schüler begleiten zu dürfen und zuzuschauen, wie sie über sich hinaus wachsen und so die Welt aus einem anderen Blickwinkel betrachten zu können, sowohl aus Sicht der Schüler als auch als Begleitperson, das kann nur stärken und auf das Leben vorbereiten.“
 

Die Rahmenbedingungen: Lenkungskreis und Notfalltelefon

Der Klassenlehrer, ein Fachlehrer, Schüler(innen) der Klasse 7 und einige Elternteile bildeten einen Lenkungskreis für das Projekt Herausforderung, der sich in der Vorbereitungsphase auf das Projekt regelmäßig traf und die Machbarkeit der von den Schüler(innen) im Lenkungskreis vorgestellten Projekte diskutierte bzw. Nachbesserungen einforderte.

Während der Herausforderungswoche wurde ein Notfalltelefon eingerichtet, das von Eltern aus dem Lenkungskreis im 24-Stunden Schichtdienst betreut wurde. Dort konnten sich die Begleitpersonen zu jeder Tag- und Nachtzeit per Handy melden.
 

Interviewer: „Was waren die wichtigsten Aufgabenfelder des Lenkungskreises?“

Antwort Elternteil: „Die Kinder haben uns schriftliche Pläne für die Projekte vorgelegt, die wir auf ihre Machbarkeit geprüft haben. Mir hat es gut gefallen, dass bei jeder Sitzung auch Schülerinnen und Schüler dabei waren, die ihre Projekte persönlich vorgestellt haben und Mitsprache halten durften. Bei der Suche nach passenden Begleitpersonen haben wir ebenfalls unterstützt, z.B. indem wir Aushänge für Hochschulen erstellt haben, um Pädagogik-Studierende für unser Herausforderungsprojekt zu gewinnen. Eine weitere Aufgabe war die Unterstützung des Klassenlehrers auf den Elternabenden – hier gab es in der Vorbereitungsphase auf das Projekt viele Befürchtungen und Bedenken der Eltern zu besprechen und oft mündete das auch in neuen Aufträgen an den Lenkungskreis – z.B. Klärung von Fragen zur Aufsichtspflicht oder Haftpflichtversicherung der Begleitpersonen.“
 


Die „Herausforderung“

Die Schülerinnen und Schüler haben viel von ihren Erlebnissen berichtet. Von erreichten Meilensteinen („Wir sind 50 km gewandert in nur drei Tagen!“) bis hin zu überwundenen Hindernissen („Wir mussten die Kanus 750 Meter weit schleppen, weil der Fluss wegen einem Naturschutzgebiet gesperrt war“). Vom Einkaufen („Jeder Einkauf hat 1,5 Stunden gedauert, weil wir uns nicht einigen konnten, was wir kaufen sollen!“) und der Suche nach Schlafplätzen („Der Bauer hat uns einfach so in der Scheune übernachten lassen, obwohl er uns gar nicht kannte“). Vom Spaß am Miteinander in der Kleingruppe („Wir haben jeden Tag Fußball gespielt und viel gelacht“) bis hin zu Frust und Langeweile („Es war ganz schön langweilig, weil wir gar keine Handys dabei hatten“). Am Schluss waren alle Schülerinnen und Schüler stolz, die Herausforderung gemeistert zu haben.


Interiewer: „Was hast Du während der Herausforderungswoche gelernt?“

Schülerin 1: „Fremde Leute nach dem Weg zu fragen. Miteinander auszukommen.“

Schülerin 2: „Das gemeinsame Geld teilen und einzukaufen.“

Schülerin 3: „Das man auch mit richtig wenig Geld auskommt!“


Der Abschluss des Projekts „Herausforderung“

Zum Ende der Woche traf sich die gesamte Schulklasse mit den Lehrkräften an einem zentralen Ort in der Mitte von Baden-Württemberg und verbrachte die letzte Nacht dort gemeinsam. Erlebnisse wurden am Lagerfeuer ausgetauscht und die letzten Einträge in die Reisetagebücher vorgenommen.


Interviewer: „Was hat Dir an dem Projekt Herausforderung gefallen?

Schülerin 1: „Freunde genauer kennen zu lernen. Selbständig zu werden. Andere Leute einfach anzusprechen. Ohne Erwachsenen zu planen.“

Schülerin 2: „Mit Freunden und ohne erwachsene Leute (bis auf die Begleiter) unterwegs zu sein. Das man eigentlich immer machen konnte was man wollte. Das Kanufahren.“

Schülerin 3: „Es war cool mal eine Woche ganz selbständig zu sein. Und auch, dass die ganze Planung von uns alleine kam.“


Interviewer: Was hat Dir an dem Projekt Herausforderung nicht gefallen?

Schülerin 1: „Das manche obwohl es verboten war ihre Handys dabei hatten und sich gegenseitig angeschrieben haben.“

Schülerin 2: „Es war viel zu kurz. Am besten wäre es, wenn es zwei Wochen gewesen wären.“
 

Was bleibt?

Ob und welche Wirkungen das Projekt „Herausforderung“ auf die Schüler(innen) hat, wird die Zukunft zeigen. Eins zumindest wird allen Eltern beim Abholen der Kinder klar: Die Kinder sind in der Projektphase über sich hinausgewachsen und selbständiger geworden. Sie treten selbstbewusster auf, weil sie eine wichtige Entwicklungsaufgabe erfolgreich gemeistert haben. Die neuen Lernerfahrungen haben im wahrsten Sinne des Wortes „lebenstüchtig“ gemacht.


Interviewer: „Hast Du Dich durch die Herausforderung persönlich verändert?

Schülerin 1: „Ich achte mehr darauf, welche Lebensmittel man kauft und wie teuer sie sind. Ich bin offener zu fremden Leuten.“

Schülerin 2:“Ich bin gewachsen und selbständiger geworden.“


Ein Wort von den Lehrern

Interviewer: Welches Resümee ziehen Sie als Lehrkräfte aus dem Projekt „Herausforderung“?

Herr Portuondo (Fachlehrer): „Ich fand vor allem die Atmosphäre unter den Kindern am Abend der Ankunft beeindruckend. Das Mitteilungsbedürfnis der Kinder zeigte deutlich, dass die Woche voller gewinnbringender Erlebnisse war.

Die Suche nach den Begleitern war für mich die größte Herausforderung! Die Unterstützung durch die Eltern im Lenkungskreis empfand ich als gelebte Gemeinschaftsarbeit. Jeder konnte und musste sich mit seiner Expertise einbringen, damit wir die Herausforderung überhaupt bewältigen konnten.“

Herr Freitag (Klassenlehrer): „Die erlebnispädagogischen Übungen, die Herr Portuondo im Vorfeld mit der Klasse durchgeführt hat, haben den Boden bereitet, in dem die Planungsarbeit der Schüler Wurzeln schlagen konnten. Die Früchte zeigten sich u.a. bei der Ankunft am Zielort, die er erwähnt. Während diese Früchte und ihre Langzeitwirkung nicht wirklich mit Worten erfasst werden können, war für mich als Klassenlehrer meine eigene Erfahrung in diesem Projekt etwas Herausragendes in meinem Lehrerleben. Die Tatsache, von der ersten bis zur letzten Minute der Planungsarbeit mit Eltern und vor allem auch Schülern auf Augenhöhe an einer gemeinsamen Sache zu arbeiten und gemeinsam für diese verantwortlich zu sein, hatte etwas zutiefst Befreiendes, da ansonsten im Schulleben die volle Verantwortung für das Miteinander in der Klasse am Ende vom Klassenlehrer getragen wird und allein dadurch Grenzen gezogen sind, (die ja z.T. auch wichtig sind). Durch die Auseinandersetzungen im Planungsprozess wurden Grenzen abgebaut, weil wir ein Ziel hatten, das wir ganz frei gewählt haben und erreichen wollten. Dieses Projekt erfordert per se diese Qualität der Zusammenarbeit.“

Die Schüler(innen) aus dem „Herausforderungsprojekt“ würden diese Alternative zur „klassischen“ Klassenfahrt auf jeden Fall anderen Schulklassen weiterempfehlen.


Interviewer: Aus welchem Grund?

Schülerin 1: „Weil man daraus sehr viel lernt und die Klasse noch enger zusammen geschweißt wird. Und weil es Spaß macht!“


Quellen

„Projekt Herausforderung“ der Evangelischen Schule Berlin Zentrum (2018). Abgerufen von https://www.ev-schule-zentrum.de/projekte/herausforderung/

„Projekt Herausforderung“ der Französischen Schule Tübingen (2018). Abgerufen von https://www.franzoesische-schule.de/schule-im-tal-lg-7-10/projekt-herausforderung/


Autorennotiz

Dr. phil. Svenja Hoyer ist Mutter von drei Waldorfkindern, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Freien Hochschule Stuttgart und hat im Lenkungskreis des Projekts „Herausforderung“ mitgewirkt.

Heiner Freitag ist Klassenlehrer an der Freien Waldorfschule Ludwigsburg.

Moh Portuondo Alvarez ist Werklehrer an der Freien Waldorfschule Schwerin und absolvierte u. a. eine erlebnispädagogische Ausbildung.
 

Dieser Artikel erschien zuerst in der Erziehungskunst