Zur Geometrie der Unter- und Mittelstufe an Waldorfschulen

Aus dem Buch:

Form ist geronnene Bewegung, Bewegung ist Willenstätigkeit. Im Formenzeichnen stre­ben wir an, Willenstätigkeit mehr und mehr mit dem Sinnes- und Vorstellungsleben zu verknüpfen, indem wir einerseits bestimmte Formen an die Wandtafel vorzeichnen und genau kopieren oder bei Spiegelungen an einer Achse eine Form möglichst exakt ergän­zend vervollständigen lassen. Das bedingt intensive Beobachtung, sowohl der Vorlage als auch der eigenen Zeichnung. Andererseits stellen wir mündlich Aufgaben, eine Gerade, einen Bogen, eine Welle, eine Spirale, ein sich schließendes Oval, eine Lemniskate ... Solche Vorgaben lassen dem Kind nach dem analytischen Prinzip ein großes Maß von Freiheit, denn der Begriff »Welle« schließt unendlich viele Einzelvorstellungen in sich. Das gilt auch dann, wenn wir vom Konkreten zum Abstrakten gehen und die zunächst mit dem ganzen Leib im Raum schreitend erlebten Bewegungen mit möglichst sanft gleitendem Material, mit Wandtafelkreide, mit kleinen Schwämmchen und flüs­siger Farbe, mit weichen Buntstiften oder mit Grafitblöcken vorzugsweise stehend an ei­ner senkrechten Fläche, vielleicht sogar an einer Staffelei, zeichnend nachvollziehen las­sen.

 

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Ganz behutsam und im willensmäßig Künstlerischen führen wir die Kinder nach und nach zum Erlebnis der geometrischen Grundformen, ohne sie bereits zu benennen. Wir üben Geraden, Kreise, wir zeichnen Winkel, wir versuchen uns in der Symmetrie, sowohl in der axialen als auch in der zentralen. Wir üben dabei sowohl unser Augenmaß als auch unsere Zeichenfähigkeit, lernen Buchstaben und Zahlen schreiben und lassen das Geo­metrische noch ganz im reinen Tun.

Der Zeitpunkt für das Bewusstmachen geometrischer Tatbestände scheint mir mit dem »Überschreiten des Rubikon«, der Ich-Verdichtung, der Trennung von Ich und Au­ßenwelt im 9./io. Altersjahr gegeben, in der Zeit, in der wir auch an das Bruchrechnen herangehen. Wir können eines Tages den Kindern die Aufgabe stellen, einen möglichst genauen Kreis zu zeichnen, indem sie das Blatt drehen und von allen Seiten nachprüfend korrigieren dürfen, bis er wirklich als rund empfunden wird und ein solches Rad kaum mehr »eiert«. Achten Sie darauf, dass die Kinder die Form nicht aneinanderstückeln, sondern wirklich aus dem Kreisen heraus arbeiten. Mit dem Radiergummi dürfen die groben »Entgleisungen« weggewischt werden. Trotzdem müssen Sie bei vielen Kindern wohl noch etwas nachhelfen. Und dann kommt ein ganz wichtiger Aufwach-Moment: Wir suchen den Mittelpunkt dieses Kreises! Die Beziehung und Spannung zwischen Pe­ripherie und Zentrum können wir zeichnend erleben und »erleiden«, indem wir beispiels­weise um das Zentrum immer größere konzentrische Kreise ziehen und uns der Periphe­rie nähern und schließlich anschmiegen, oder umgekehrt von der Peripherie aus durch eine Schar schrumpfender konzentrischer Kreise das Zentrum zu treffen suchen. Das kann natürlich künstlerisch ganzheitlich auch in der Turnhalle oder auf dem Pausenhof im Großen schreitend und mit entsprechenden Reigenspielen, bei welchen nunmehr ein Kind eine Funktion in der Mitte des Kreises zu erfüllen hat, geübt werden.

Damit ist der Beginn des Geometrieunterrichts vollzogen, und von diesem Moment an sollten Geometrie und Formenzeichnen klar getrennt werden. Ich habe es bei Hospi­tationen erlebt, dass Geometrisches aus einer Formübung heraus zu entwickeln versucht wurde, und zuletzt war es eben doch irgendein Ornament oder »Müsterchen« und keine wirkliche Geometrie.

In der vierten und wohl auch noch sehr weit in die fünfte Klasse hinein werden wir päd­agogisch heilsam wirken, wenn wir Geometrie aus freier Hand zeichnen und Zirkel und Lineal noch beiseite lassen. Das Kind muss die Form zuerst in seiner Seele entstehen las­sen, wenn sie ihm aus freier Hand gelingen soll. Eine Gerade oder ein Kreis gelingen uns zeichnerisch nur dann, wenn wir uns innerlich total, betrachtend, fühlend und wollend, auf das Wesen auszurichten vermögen, sozusagen selber zur Geraden oder zum Kreis werden. Diese ganze, äußerst wichtige »innere Geometrie« lassen wir ungenutzt, wenn wir gleich ohne großes Engagement mit dem Zirkel »draufloswirbeln«. Denn Geometrie - wie auch Arithmetik - sind auf geheimnisvolle Weise aus dem Vorgeburtlichen in un­sere Tast-, Lebens-, Bewegungs- und Gleichgewichtsorganisation, in den Bereich der Wil­lenssinne, eingeschrieben und warten darauf, aus der schlafenden Dumpfheit befreit und als Abstraktion ins helle Licht des Bewusstseins gehoben zu werden. Daher dürfen wir den Kindern Mathematik nicht »beibringen«, sondern müssen sie aus ihnen herausholen. Je mehr es uns gelingt, Abstraktionen aus den Tast-, Lebens-, Eigenbewegungs- und Gleichgewichtserlebnissen ins Bewusstsein zu heben bis zur Begriffsbildung, desto stärker verknüpfen wir den Willen mit dem Denken und machen dieses frei und lebendig. Was wäre zu Beginn für diesen Prozess besser geeignet als das freie, skizzierende, tastende, abwägende Tun in der Freihandgeometrie. Und wenn uns ein Kreis endlich gelungen ist, reagiert der Lebenssinn mit Behagen. Mathematikunterricht geht eindeutig von unten nach oben, aus dem Willensbereich durch das rhythmische System ins Bewusstsein. Das furchtbar unselige »Erklären« am Beginn zerstört diesen Prozess, weil es am Ende des Weges ansetzt und den Esel beim Schwanz aufzäumt.

Wir können anschließend an das Erlebnis von Zentrum und Peripherie beginnen den Kreis zu gliedern. Wir ziehen eine Senkrechte durch das Zentrum und teilen den Kreis in eine rechte und linke Hälfte, ein andermal durch eine Waagrechte in eine obere und un­tere Hälfte, und schließlich kombinieren wir beide Aufgaben und vierteln den Kreis. Wir haben zwei Durchmesser gewonnen, und am Zentrum, wo sich die beiden schneiden und ein Achsenkreuz bilden, entstehen rechte Winkel. Wenn es uns gelingt, die vier Kreis­punkte der Reihe nach durch möglichst gerade Linien miteinander zu verbinden, erhal­ten wir ein auf der Spitze stehendes Quadrat mit seinen Diagonalen (Abb. 2). Wir kön­nen bereits jetzt bei der ersten Begegnung die totale Regelmäßigkeit und Vollkommenheit des Quadrates zum Erlebnis bringen und in den Kindern Staunen und sehr tiefe Gefühle der Bewunderung und Verehrung erwecken, indem sie selber nach und nach die wichtigs­ten Qualitäten des Quadrates finden: Vier gleich lange Seiten, welche paarweise parallel liegen, vier rechte Winkel, zwei gleich lange Diagonalen, die sich rechtwinklig schneiden und gegenseitig halbieren, vier Symmetrieachsen (die Mittelparallelen zu den Seiten so­wie die beiden Diagonalen), ein Symmetriezentrum und natürlich den Umkreis ...