Vom Grashalm zum Wollpullover

Ein Beitrag von Sabine Zäpfel (Freie Waldorfschule Wendelstein)

Tag für Tag futtern unsere Schulschafe Gras, Heu und Karotten. Am liebsten laufen sie frei übers Gelände und suchen sich selbst die feinsten Kräuter aus. Besonders im Frühjahr steuern sie zielstrebig den Drittklassacker mit den ersten grünen Halmen oder den Schulgarten mit leckeren Resten vom Vorjahr an.

Absperrungen ignorieren sie dabei selbstverständlich. Vor allem Gretel kämpft mutig den Weg durch ein Bollwerk aus Zweigen frei und schon sind alle drei auf verbotenem Terrain. Maunzerle schaut den Ausreißern meist gähnend zu und räkelt sich in der Sonne, so als wolle sie kundtun: „Ich bin doch kein Hütehund. Meine Aufgabe ist es, das Gelände zu bewachen und fremde Zwei- und Vierbeiner zu vertreiben.“ Das macht sie tatsächlich sehr energisch!

Meist in den Pfingstferien kommt Thomas Junge, ein ehemaliger Berufsschäfer. Zuvor müssen die Schafe etwas überlistet und in den Stall gesperrt werden. Das passiert genau einmal im Jahr, immer am Tag der Schur. Diesen Tag scheinen sich die Schafe gut zu merken, denn nur mit viel Überredungskunst sind sie bereit, kurz in den Stall zu gehen. Ist dann die immer offene Tür nicht schnell genug zu, ist das Thema Scheren erledigt. Zeit zum Einfangen auf der Weide hat Thomas Junge nicht.

So holt er ein Wollknäuel nach dem anderen aus dem Stall und schert den Pelz im Handumdrehen herunter, schneidet die Klauen und spritzt eine Wurmkur ins Maul. Fertig! Obwohl er ein Profi ist, findet er zusätzliche Zuschauer für die Tiere zu stressig und bittet um Verständnis, dass er kein Schau-Scheren veranstalten möchte. Im Herbst bekommen die Erstklässler eine gute Portion der noch fettigen Wolle zum Waschen, Trocknen und Zupfen mit nach Hause. Sobald die ersten Wichtel, die Bälle, Schäfchen und Schäfer gestrickt sind, werden sie mit der Wolle unserer Schulschafe ausgestopft. Bisweilen wird die gewaschene und kardierte Wolle auch versponnen, gefärbt und verstrickt. Dabei entstehen besondere Kostbarkeiten nach einem langen Vorbereitungsweg.

Die Kinder erleben die Tiere das ganze Jahr über auf der Weide und im Gelände. Im Winter können sie die Hufspuren im Schnee entdecken, im Sommer bewähren sie sich oft als tüchtige Hütehelfer. Um die Schafe und Maunzerle streicheln zu können, lernt jedes Kind, vorsichtig zu sein und Geduld zu haben. Vor einer Gruppe, die mit Stöcken bewaffnet und schreiend den Hügel hinabstürmt, nehmen die Schafe sofort Reißaus. Das weiß bald jeder Neuling.

Nach einer Weile weiß jedes Kind, wie aus einem Grashalm ein Wollpullover wird. Im Laufe der Schulzeit setzt sich die Erfahrung von Naturkreisläufen nachhaltig immer weiter fort.

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