Wir sind Schlichter, keine Richter!

Ein Beitrag von Stefanie Betz. Sie ist freiberufliche Trainerin mit dem Schwerpunkt Kommunikation und Konflikt, Coach für Führungskräfte, Ausbilderin der Streitschlichter. Verheiratet, 2 Töchter, seit 1998 Mitglied im Vorstand der freien Waldorfschule am Kräherwald in Stuttgart.

Seit dem Frühjahr 2006 schlichten Schüler an der Freien Waldorfschule am Kräherwald die Streitigkeiten unter Schülern. Statt Strafen durch den Lehrer zu bekommen, haben die Streithähne die Möglichkeit, gemeinsam mit den Streitschlichtern in einem freiwilligen, strukturierten Gespräch eine Lösung zur Beilegung ihres Konfliktes zu entwickeln.

 

Ursprung der Mediation

Die Grundlage dieser Struktur ist aus der Mediation entstanden, die ihren Ursprung schon in den 1960er Jahren in den USA bei politischen Verhandlungen hatte. Daraus etablierte sich Mediation als Möglichkeit der außergerichtlichen Einigung, im Besonderen bei Trennungen/Scheidungen, in der Wirtschaft und eben auch an Schulen.

Anfang der 1970er wurden in Amerika unter dem Namen „Childrens´s Creative Response to Conflict" (CCRC) Trainingsprogramme für Schüler und Lehrer entwickelt. Mit Gruppenarbeit, Übungen und Rollenspielen wurden das Selbstbewusstsein und das Gemeinschaftsgefühl gestärkt und die Schüler dadurch zur Anwendung konstruktiver Konfliktlösung befähigt.

 

Die Umsetzung am Kräherwald

Die Freie Waldorfschule am Kräherwald ist keine zu Gewalt neigende Schulgemeinschaft. Und doch sind alle Probleme, die an den Regelschulen erkennbar sind, die in den Medien veröffentlicht werden und die in unserer Gesellschaft leben, auch an unserer Schule erkennbar. Grenzen werden überschritten und an diesen Schnittstellen entsteht Streit. Das alles führte dazu, dass nach pädagogischen Methoden gesucht wurde, die den Schülern Mittel und Fähigkeiten an die Hand geben ihre Konflikte und Streitigkeiten professionell selbst zu lösen.

Vor diesem Hintergrund wurde die Ausbildung der Schüler zu Streitschlichtern durch den Eltern-Lehrer-Vertrauenskreis (ELVK) angeregt, von der Konferenz, dem Eltern-Lehrer-Rat und vom Vorstand befürwortet. Die Verantwortung für die Konzeption, Durchführung und Begleitung der Ausbildung wurde mir, in meiner Funktion als freiberufliche Trainerin im Bereich Kommunikation und als Mutter im ELVK, übergeben. Das Projekt wurde in den Klassen 7-9 vorgestellt, und anhand eines Fragebogens konnten sich die Schüler bewerben. Aus der Vielzahl der Bewerber wurden je Klasse zwei bis drei Schüler pro Klasse ausgewählt.

In der 7. Klasse beginnt für die Schüler der Übergang in das dritte Lebensjahrsiebt und damit der Schritt dahin, sich eine eigene Urteilskraft zu bilden. So zeigt sich in unserer Arbeit, wie leicht die Schüler, an dieser Schwelle in ihrer Entwicklung, die Instrumente der Kommunikation spielend lernen, wie freudvoll mutig sie üben und an den Erfolgen wachsen. Die Altersmischung in der Gruppe bietet den jungen Kindern die Möglichkeit, sich neue Vorbilder zu schaffen, von denen sie lernen. Die älteren Schüler übernehmen Patenschaften für die jungen Schlichter und werden so in die Verantwortung als Vorbilder genommen.

Der Auftakt war ein dreitägiges Seminar im Februar 2006 für eine Gruppe von 16 Schülern und fünf Mitgliedern des Eltern-Lehrer-Vertrauenskreises auf einer abgelegenen Burg, um dort in Ruhe die Grundlagen der Gesprächsführung und Mediation zu erarbeiten. Dabei wurden im Schwerpunkt Aktives Zuhören, Fragetechniken, Ich-Botschaften und die Phasen der Mediation geübt. Hoch motiviert wurde im Anschluss der extra dafür vorgesehen Raum eingerichtet, die Streitschlichter stellten sich und ihre Aufgabe in sämtlichen Gremien und in den einzelnen Klassen vor. Nach Ostern begann die eigentliche Arbeit.

Die Schlichter konnten bei den ersten Einsätzen, nach den Regeln der Mediation, viel zur Klärung und Versöhnung beitragen. Bei den Konflikten geht es hauptsächlich um Sachbeschädigung, Handgreiflichkeiten und persönliche Verletzungen. Das reicht vom versteckten Schulranzen bis hin zur Grenze des Mobbings.

Das Gespräch wird in fünf Phasen moderiert. Eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg ist, dass die Schüler freiwillig kommen, das Gespräch vertraulich bleibt und dass gegebenenfalls bereits verhängte Strafen ausgesetzt werden (auch wenn im Folgenden die männliche Form gewählt ist, sind selbstredend auch Mädchen in Konflikte involviert):

 

Phase 1: Kontakt

Mit der Begrüßung und Vorstellung wird das Gespräch eröffnet, die Parteien werden darauf hingewiesen, dass alles, was sie sagen, über die Schlichter geht, diese die Aufgabe haben beide gleich zu behandeln und zu verstehen, um mit ihnen gemeinsam eine faire Lösung zu finden. Die Streitenden müssen dann noch drei Regeln zustimmen:

  • Es spricht nur einer.
  • Keiner verletzt oder kränkt den anderen.
  • Das Gespräch ist vertraulich, keiner erzählt den Inhalt weiter.

 

Phase 2: Standpunkte hören und verstehen

Nun erzählt die eine Seite, was sie erlebt hat, die Schlichter hören zu und klären, ob sie alles richtig verstanden haben. Dann stellt die andere Seite die Geschichte aus seiner Sicht dar. Um Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten haken die Schlichter mit Orientierungsfragen nach.

 

Phase 3: Positionen und Interessen

Wenn die unterschiedliche Sicht derselben Situation deutlich geworden ist, fragen die Schlichter nach, was das nun für den Einzelnen bedeutet und wie es ihm mit dem Besprochenen geht, was ihm dabei das Wichtigste ist. Die Schlichter müssen hier besonders einfühlsam sein, die Gefühle der Einzelnen werden wahrgenommen und gespiegelt.

 

Phase 4: von der Vergangenheit zur Zukunft

Die Streitenden werden nun gefragt, was sie sich anders gewünscht hätten, um eine Idee zu bekommen, was es an Möglichkeiten gibt, anders miteinander umzugehen. In dieser Phase wird auch der Kontakt zwischen den Kontrahenten hergestellt, um gemeinsam darauf zu schauen, was sie in Zukunft anders machen können.

 

Phase 5: Abschlussvereinbarung

Daraus abgeleitet werden die Lösungen vereinbart. Dabei wird nach den Wünschen für den Ausgleich gefragt: „Was könntest du von... wollen, um dich wieder mit ... zu vertagen und was könntest du ihm dafür geben." Wenn beide sich einig sind, wird diese Vereinbarung in einem Vertrag, der von allen unterschrieben wird, festgehalten. In einem Folgetermin wird nochmals geklärt, inwieweit die Versöhnung tragfähig ist.

Allein die Tatsache, dass es die Streitschlichtergruppe gibt, trägt viel zu einem friedvollen Bewusstsein bei. Manche gehen gerne und freiwillig dorthin, andere auf Empfehlung des Lehrers und wieder andere sind motiviert, ohne Streitschlichter ihre Konflikte selbst fair zu lösen.

Inzwischen haben wir den zweiten und dritten Block der Ausbildung durchgeführt. Um das Projekt kontinuierlich weiterentwickeln zu können wurde die Gruppe um weitere Schüler der neuen 7. Klassen bereichert und so sind nun 24 ausgebildete Streitschlichter aktiv. Die neuen SchülerInnen werden von den „alten" mit ausgebildet, diese übernehmen bereits Teile im Seminar und geben ihre Erfahrungen weiter. In Zukunft werden sie noch stärker in die Ausbildung eingebunden. Das Besondere an unserer Arbeit ist der Verhaltens- und Kunstorientierte Ansatz. Unser Anliegen ist es, dass sie Schüler die innere Haltung zur Streitschlichtung entwickeln und nicht nur die Struktur des Leitfadens umsetzen, um so den unterschiedlichsten Situationen gerecht werden zu können. Dies erreichen wir durch viele konkrete Übungen, denen häufig eine künstlerische Aufgabe zu Grunde liegt.

Die gesamte Gruppe wird von den begleitenden Lehren und mir eng betreut, um nah dran zu sein, wenn ein Fall den Handlungsrahmen der Schüler übersteigt. In regelmäßigen Treffen werden die Fälle besprochen und reflektiert, um an den konkreten Beispielen kontinuierlich weiter zu schulen.

Nach den nunmehr zwei Jahren zeigt sich, dass das Projekt tragfähig ist. Die Streitschlichter übernehmen immer mehr Aufgaben über die eigentliche Streitschlichtung hinaus. Diese sind z.B. die Organisation eines alljahrlichen Hockeyturniers für die Klassen 5 - 8, Patenschaften für Klassen 1 - 4, Begleitung von Ausflügen, Besuch von Elternabenden, Präsentation des Streitschlichterkonzeptes in anderen Schulen.

Die Arbeit wirkt bis in die einzelnen Klassen und deren soziales Verhalten hinein und damit in unsere gesamte Gemeinschaft. Wesentlich für die Umsetzung und den Erfolg ist, dass das Projekt von der gesamten Schulgemeinschaft getragen wird und Die positive Haltung der Lehrer, Eltern und Schüler ermöglicht, dass die Keime des konstruktiven fruchtbaren Miteinanders wachsen können.

Allein es entsteht der Wunsch dieses Wissen mittelfristig an alle Schüler weitergeben zu können....

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