SOZIALE GEOGRAPHIE oder Orientierung im Sozialen

Ein Beitrag von Angelika Ludwig-Huber (Freie Waldorfschule Karlsruhe)

ICH UND DU UND WIR

Kürzlich war es möglich, in einer achten Karlsruher Klasse eine etwas mehr als einwöchige Hauptunterrichtsepoche zu halten. Der Klassenführung war das einfach wichtig genug, um die übrigen Epochen entsprechend einzurichten. Wir haben diese Epoche „Soziale Geographie- Ich und Du und Wir" genannt. Neben vielen morgendlichen sozialen Übungen und Spielen, die mit Freude in die einzelnen Fragestellungen hinein führten, ging es inhaltlich kurz gesagt zunächst vor allem darum, dass sich die Schülerinnen und Schüler bewusst machen konnten, was jeder Mensch zum Leben braucht (grundlegende Bedürfnisse), an welcher Stelle das unter Umständen mit den Bedürfnissen eines anderen in Konflikt gerät, und wie man dann damit umgehen kann, so dass keiner sich als Verlierer fühlen muss. So schloss sich diese Woche an die Menschenkundeepoche an. An konkreten Konfliktbeispielen konnten wir mit den Schülern erleben, wie anders die Sichtweise auf einen Streit sein kann, wenn man in die Rolle des anderen schlüpft und von dort aus auf den Konflikt schaut.

Hier wurde deutlich, was das indianische Sprichwort meint: „Urteile nicht über einen Menschen, in dessen Mokassin du nicht mindestens eine Meile gelaufen bist."

Die Schüler spürten ganz lebendig, was unter einem „Konflikt-Eisberg" liegt: Gefühle, Werte, Wünsche, die vom anderen erst einmal gar nicht gesehen oder erahnt werden können (beim echten Eisberg sind das ja nur zwischen 1o und 2o %). Von diesem Erlebnis her ist es dann nur folgerichtig, dass das eigene Vor- Urteil in einem Konflikt ganz schön in die Irre leiten kann und es viel sinnvoller ist, aktiv nachzufragen, was es mit den Bedürfnissen des anderen auf sich hat und wo seine Not liegt. Dass hinter Konflikten oder konflikthaftem Verhalten oft ungestillte Bedürfnisse liegen, dass aber jeder Mensch solche existentiellen Bedürfnisse wie Achtung, Zuneigung, Zusammengehörigkeit hat und alle Schüler das auch allen wünschen, das wurde so wichtig für die Schüler, dass sie großes Interesse entwickelten, danach zu forschen, was jemandem, der sich „ irgendwie komisch" verhält, fehlt und wie man das mit dem anderen auch gemeinsam im Gespräch heraus finden kann. Dass das ganze gewaltfreies Kommunizieren heißt, war an dieser Stelle nicht wichtig, viel wichtiger waren die Erlebnisse:

Zu - Neigung wurde auch körperlich sichtbar. Die Schüler selbst fanden heraus, das der Begriff eigentlich bereits die not - wendige Haltung im Konflikt ausspricht: Wenn ich mich jemandem zu - neige, entsteht Interesse und eine Möglichkeit zum Dialog. Wenn ich dann mein Vor - Urteil ersetzen kann durch eine fragende Haltung und aktiv zuhöre, dann kann es mir gelingen, den anderen in seinen Bedürfnissen, oder in seiner akuten Not zu verstehen und zu prüfen, ob ich daran etwas ändern möchte.

Dann kann ich sogar überrascht werden von „neuen Seiten" am anderen, die mir mein „Alltagsblick" („der ist halt so") bislang vorenthalten hat.

Auf einer kleinen Zeitreise ins Jahr 2024 überlegten wir dann noch, was die Schüler ihren Kindern wünschen.

 

Was ich meinem Kind einmal wünsche:

 

Nahrung

Licht

Gameboy

Zuneigung

IPod

Süßigkeiten

Bausparvertrag

Anerkennung

Bildung

Gerechtigkeit

Einen

ferngesteuerten Kinderwagen

Kunst

Flachbild-Fernseher

Freunde

Sinn im Leben

Werte

Selbst-Bestimmung

Pampers

Seidenschals

Handy

Skateboard

Gesundheit

Zugehörigkeit

Freiheit

 

Das war überraschend: kein Ipod, kein Gameboy, sondern Erfüllung von Bedürfnissen. Mit so viel sicherem Gefühl für existentiell Wichtiges konnten wir dann noch die Zeitreise ins Jahr 1938 wagen und schauen, was da vielleicht Menschen gefehlt haben könnte. Ganz schnell waren wir bei der Würde, und ganz schnell auch beim Selbstwertgefühl, das Menschen gefehlt und dazu geführt hat, dass Menschen dazu verführt werden konnten, sich dieses Bedürfnis auf Kosten anderer zu holen.

Ein hervorragendes Jugendbuch „ Im Schatten der Wächter" (Graham Gardner) half uns wieder zurück in die Gegenwart und zu einem Verstehenkönnen dessen, was bei Ausgrenzungsproblemen oder „Mobbing" unter Jugendlichen „unter dem Eisberg" liegen kann.

Orientierung heißt hier verstehen können, aber auch handeln wollen, nicht aus purem Aktionismus heraus, sondern weil etwas tief erlebt werden konnte und in der Gemeinschaftso gestaltet werden will, dass die Bedürfnisse aller respektiert werden können.

Ich glaube, diese Klasse hat das für sich erlebt. Und ich bin sicher- das haben die Schüler auch in ihren Abschlussfeedbacks schriftlich zum Ausdruck gebracht - dass diese Schüler tatsächlich einen Kompass erworben haben, in problematischen Situationen die entscheidenden zu - geneigten Fragen zu stellen.

Weitere Anregungen zu diesem Thema: www.interesse-ev.de

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