Wir Opfer

Johannes Denger ist Heilpädagoge, Waldorflehrer und Buchautor.

Was ist eigentlich der gemeinsame Nen­ner des Irrsinns, der sich zurzeit gesell­schaftspolitisch, medial und auch pri­vat abspielt? Meine Antwort: Jeder fühlt sich heute als Opfer. Es ist die einzig übriggebliebene, gesell­schaftlich anerkannte Lebensform.

In der AfD: alles Zukurzgekommene durch eine linksgrün-versiffte nach 68-er Politik. Die Altpar­teien ihrerseits sind seit neustem deren Leidtra­gende bei der Wahl und im Bundestag. Donald Trump ist der Rächer der Amerikaner, die seit Jahrzehnten ausgenutzt wur­den. Opfer allesamt einer unge­rechten Welt, die sich auf den großen Weltpolizisten verlassen hat. Wir haben missverstanden: Die USA hat sich nicht aus Hegemonialstreben, sondern aus purer Selbstlosigkeit weltweit eingemischt. Das etwas breit-beinige Sheriffgehabe verdeckte die Tatsache, dass sie eigentlich nur von den anderen vorgeschoben und ausgenutzt wurden. 9/11 änderte mit einem Schlag alles: Auch Amerika war jetzt ein an­erkanntes Opfer.

Das Praktische ist, dass man nicht nur Mitgefühl bekommt, sondern jede darauffolgende eigene Reaktion durch das Opfersein gerechtfertigt erscheint. Die Frustrierten kennen im Netz keine Grenzen mehr. Es wird beschimpft, beleidigt, herabgesetzt, weil man als Opfer ja das Recht dazu hat.

Die Frau (#meetoo) ist als solche ein Opfer, un­abhängig davon, ob sie es individuell tatsächlich ist. Der Mann, egal ob schuldig oder nicht, ein Ver­gewaltiger (bei manchen ist es halt nur noch nicht dazu gekommen). Natürlich sehen sich in der Fol­ge alle Männer als Opfer eines solch rigiden Generalverdachts.

In der Klasse, die ich als Lehrer führte, ärgerte ein Junge gerne andere, die sich zunehmend als sei­ne Opfer fühlten. Bei Gesprächen mit seinen Eltern wurde klar: Sie sahen es genau umgekehrt. Ihr Sohn wurde zum Sündenbock gemacht und war damit das eigentliche Opfer!

Ich selbst fühlte mich selten als Opfer im Lau­fe meines Lebens. Dann erlitt ich Anfang 2015 aufgrund gesundheitlicher Probleme und daraus folgender Schwäche einen psycho-physischen Erschöpfungszustand. Nun bin also auch ich ein aner­kanntes Opfer.

Das Schlimme an diesem inflationären „Opfer­sein" ist aber die daraus resultierende, unbeabsich­tigte Verhöhnung der wirklichen Opfer. Den im Dritten Reich verfolgten und ermordeten Juden

etwa wird seit neustem durch Vogelschiss­ und Mahnmal-der-Schande-Debatten die Anerkennung als Opfer einer monströsen Vernichtung versagt - oder der historische Kontext doch stark relativiert. Interes­sant auch, was passierte, als sich die Israelis ihrerseits geschwo­ren hatten, niemals mehr Op­fer sein zu wollen. Anerkennung und Mitgefühl schwanden, natür­lich auch, weil sie durch militärische Stärke in der Region und eine entsprechende Politik im Gaza­streifen ihrerseits andere zu Op­fer machten.

Menschen, die sich heu­te nicht als Opfer outen, wirken seltsam altmodisch, irgendwie aus der Zeit gefallen. Ihre optimistische Offenheit der Welt und den anderen Menschen gegenüber er­scheint naiv. Die Vermutung liegt nahe, dass auch sie eigentlich Opfer, zum Beispiel ihrer Blauäugig­keit sind, aber es nur noch nicht gemerkt haben.

Befreien wir uns vom Opfersein! Hören wir auf, unser Leben und die Welt nur noch zu erleiden, freuen wir uns des Lebens, schreiten wir zur Tat und bringen wir mal wieder aus Freiheit ein Opfer, statt aus Unfreiheit uns als eins zu fühlen!

P.S. Wenn Sie sich jetzt durch meinen Text ver­letzt fühlen sollten und einen geharnischten Leser­brief an die Redaktion schreiben wollen, kann ich nur zur Vorsicht raten: Dadurch würden Sie mich zum anerkannten Opfer der praktizierten Mei­nungsfreiheit machen.


Diese Kolumne ist der INFO3 Ausgabe vom Juli-August 2018 mit freundlicher Genehmigung der Redaktion entnommen. 

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