Der Rattenfänger
Zu Hameln fechten Mäus und Ratzen
Am hellen Tage mit den Katzen;
Der Hungertod ist vor der Tür:
Was tut der weise Rat dafür?
Im ganzen Land
Macht er`s bekannt:
Wer von den Räubern
Die Stadt kann säubern,
Des Bürgermeisters Töchterlein,
Die soll zum Lohn sein eigen sein.
Am dritten Tage hört man`s klingen
Wie wenn im Lenz die Schwalben singen;
Der Rattenfänger zieht heran -
O seht den bunten Jägersmann!
Er blickt so wild
Und singt so mild,
Die Ratten laufen
Ihm zu in Haufen;
Er lockt sie nach mit Wunderschall,
Ertränkt sie in der Weser all.
Die Bürger nach den Kirchen wallen,
Zum Dankgebet die Glocken schallen:
Des Bürgermeisters Töchterlein
Muss nun des Rattenfängers sein.
Der Vater spricht:
“Ich duld es nicht!
So hoher Ehren
Mag ich entbehren.
Mit Sang und Flötenspiel gewinnt
Man keines Bürgermeisters Kind.“
In seinem bunten Jägerstaate
Erscheint der Spielmann vor dem Rate.
Sie sprechen all aus einem Ton
Und weigern den bedungnen Lohn:
“Das Mägdelein?
Es kann nicht sein;
Herr Rattenfänger,
Müht Euch nicht länger!
Eur Flötenspiel ist eitel Dunst
Und kam wohl von des Satans Kunst.“
Am andern Morgen hört man`s klingen,
Wie wenn die Nachtigallen singen.
Ein Flöten- und ein Liedersang,
So süß vertraut, so liebebang!
Da zieht heran
Der Jägersmann,
Der Rattenfänger,
Der Wundersänger,
Und Kinder, Knaben, Mägdelein
In hellen Scharen hinterdrein.
Und hold und holder hört man`s klingen,
Wie wenn die lieben Englein singen,
Und vor des Bürgermeisters Tür,
Da tritt sein einzig Kind herfür.
Das Mägdelein
Muss in den Reihn;
Die Mäuschen laufen
Ihm zu in Haufen.
Er lockt sie nach mit Wunderschall,
Und nach der Weser zogen all.
Die Eltern liefen nach den Toren,
Doch jede Spur war schon verloren.
Kein Eckart hatte sie gewarnt,
Des Jägers Netz hält sie umgarnt.
Zwei kehren um,
Eins blind, eins stumm.
Aus ihrem Munde
Kommt keine Kunde.
Da hob der Mütter Jammer an.
So rächte sich der Wundermann.
Karl Simrock