Crashkurs fürs Leben! Sozialpraktikum in Indien
In der 11. Klasse absolviert jeder Schüler und jede Schülerin der Waldorfschule Soest über drei Wochen ein Sozialpraktikum, das unter bestimmten Bedingungen auch im Ausland abgeleistet werden kann. Viele unserer Auslandspraktikanten verlängern ihre Praktikumszeit um die anschließenden Herbstferien. So auch Nicola Kuhle, die im Folgenden über ihre Erfahrungen in Indien berichtet.
Schon im Voraus freute ich mich sehr darauf, eine Tätigkeit im sozialen Bereich ausprobieren zu dürfen und nahm mir vor, mich nicht mit der nächstbesten Praktikumsstelle zu begnügen, sondern diese Chance richtig zu nutzen. Zwar konnte ich meinen Traum, in Afrika zu arbeiten, nicht verwirklichen, doch erhielt ich schließlich über die Organisation „Friendcircle Worldhelp" die Adressen zweier Einrichtungen in Südindien: ein Waisen-und Behindertenheim in Kerala und ein Hospiz für Obdachlose in Tamil Nadu. Ich landete am 17.09.12 in Kochi, wo ich von Father James, dem Leiter des „Good News Home" abgeholt wurde. Zwei Stunden fuhren wir in einem, sagen wir gewöhnungsbedürftigen, Fahrstil über die staubigen, mit Schlaglöchern übersäten Straßen Keralas, bis wir in dem 60 km entfernten Ort namens West Kodikulam ankamen. Hier hatte der katholische Pfarrer 1977 ein Heim aufgebaut, in dem er jeden Bedürftigen, egal ob Muslim, Christ oder Hindu, aufnahm.
Das ist extrem ungewöhnlich in Indien und auch der Grund, warum er keine Unterstützung von der katholischen Kirche bekommt und bei seinen Kollegen eher als Schwarzes Schaf gilt.
Die Bewohner des „Good News Home" sind im Allgemeinen Verstoßene, die wegen ihrer körperlichen oder psychischen Krankheit von der Gesellschaft verachtet und auch von ihren Verwandten oft vergessen werden. Das Heim ermöglicht ihnen in erster Linie überhaupt ein Leben, denn schon das wäre auf der Straße eine Herausforderung. Alle Bewohner helfen bei den alltäglichen Aufgaben, bekommen Kleidung, ein Bett und drei warme Mahlzeiten am Tag. Was mich zuerst sehr irritierte, war, dass die Bewohner außerhalb ihres Arbeitsdienstes keinerlei Beschäftigung hatten. Sie schliefen viel oder saßen einfach nur da. Später bemerkte ich, dass Dasitzen und Nichtstun in Indien ein sehr beliebter Zeitvertreib ist. Kerala ist eines der zivilisiertesten Bundesländer in Indien.
Ich war zunächst sehr überrascht, da ich mir alles „schlimmer" vorgestellt hatte. Und trotzdem war es nicht einfach, sich an diese ganz andere Welt zu gewöhnen. Was mir anfangs am meisten zu schaffen machte, war mein Bedürfnis, die Menschen zu verstehen und mich von ihnen verstanden zu fühlen. Wäre das sofort der Fall gewesen, hätten mich kein fehlendes Toilettenpapier und keine Achterbahnfahrten meines Magens aus der Bahn werfen können. Obwohl man mir als Weiße aus dem Westen nur das Beste vom Besten zukommen ließ, war ich aus dem geselligen Leben und aus den Unterhaltungen meist ungewollt ausgeschlossen. Insgesamt konnten drei Personen im Heim Englisch. Und zwar indisches Englisch, was durchaus eine Herausforderung für mich darstellte. Hinzu kam, dass man sich nicht traute, mir richtige Arbeit zu geben, aus Angst, sie würde mir nicht entsprechen. Natürlich fragte ich - ohne großen Erfolg - auch nach, was ich tun könne, und schließlich suchte ich mir selbst sinnvolle Beschäftigungen. Meinen Tagesablauf im „Good News Home" könnte man so zusammenfassen: Um 6:00 („You can sleep in, if you want. Is 6.00 am okey?") ging ich zum Waschhaus, wo die Frauen schon mit dem Waschen begonnen hatten. Die - oft sehr verschmutzte - Wäsche wurde auf einer Betonplatte mit einem Stück Seife und kaltem Wasser gewalkt und dann zum Ausspülen weitergegeben.Anschließend ging ich in die Küche, wo ich eigentlich helfen wollte. Stattdessen drückte man mir eine Tasse Chai in die Hand und pflanzte mich auf einen Stuhl. Nach dem Frühstück, das aus Chapati oder Reis mit Fleisch bestand, half ich noch den 10 Waisenkindern, das Essen für die Schule abzufüllen und ging dann wieder zu den Frauen, die nun die Wäsche auf dem asphaltierten Hof ausbreiteten. Bald kam ich auf die Idee, die unzähligen Löcher und Risse in den Kleidern zu reparieren und zu stopfen.
Nach dem Mittagessen schliefen die meisten, was wegen der Hitze auch unumgänglich ist. Nach 2 ½ Stunden machte ich mich wieder zur Küche auf und half beim Teekochen.
Dann kamen die Kinder von der Schule zurück und ich trank mit ihnen Tee und aß Süßigkeiten, die tatsächlich noch süßer als der Tee waren. Die meisten Kinder waren im Alter von 9 bis 13 und konnten schon ein bisschen Englisch. Mit ihnen hatte ich viel zu lachen, und so waren die Nachmittage meist interessanter als die Vormittage. Nach dem Tee half ich den Kindern bei den Schularbeiten oder spielte mit ihnen.
Gegen 18 Uhr gab es eine Abendandacht. Obwohl der katholische Glaube auch in Indien auf denselben Prinzipien wie in Deutschland beruht, wird er ganz anders umgesetzt. Eines der Kinder liest in einer Art Sprechgesang aus einem Buch, und Teile des Textes werden von der Gruppe nachgesungen, wobei man auf dem Boden kniet und die Arme in die Luft streckt. Nach einer halben Stunde ist diese kleine Zeremonie beendet und das gesamte Heim quetscht sich vor einen kleinen Minifernseher und verfolgt gebannt indische High-Society-Dramen. Anschließend gab es Abendessen, woraufhin ich mich in mein Zimmer zurückziehen konnte.
Nach diesem Schema vergingen die Tage. Ich verbrachte die ersten vier Wochen weitgehend im Heim. So lernte ich das wahre Indien erst kennen, als ich mit dem Bus zu meiner zweiten Praktikumsstelle nach Dindighul, einer Stadt in dem benachbarten Bundesland Tamil Nadu aufbrach.
Die Fahrt nach Dindighul war definitiv die Erfahrung wert, obwohl ich danach den Mund voller Staub hatte und meine Ohren sich anfühlten, als hätte ich die neun Stunden in einer zu lauten Disko und nicht in einem Bus verbracht, da sowohl die indische Musik als auch die Hupen, die man durchgängig hört, vergleichbare Lautstärken an den Tag legen. Die Landschaft, durch die ich fuhr, und was ich von den Menschen und den Städten sah, machten das aber wieder wett.
Das „St. Joseph Hospice for dying destitute" in Dindighul, das ich nun für zwei Wochen besuchte, beherbergt ca. 300 Patienten und wurde ebenfalls von einem katholischen Pfarrer aufgebaut. Entdeckt er oder einer seiner Mitarbeiter einen verletzten oder kranken Obdachlosen auf der Straße, wird er mit dem Krankenwagen in das Hospiz gebracht. Dort wird er gewaschen und rasiert und ihm werden Kleidung, Essen und ein Bett zur Verfügung gestellt. Außerdem bekommt er - so gut das möglich ist - medizinische Hilfe. In dem Hospiz leben und arbeiten ausgebildete Krankenschwestern, die sich um die Patienten kümmern. Einmal in der Woche kommt ein Arzt vorbei und behandelt die schlimmsten Fälle. Ist der Patient wieder gesundet, versucht man, seine Familie ausfindig zu machen. Manchmal kommen die Angehörigen und nehmen ihren Verwandten mit, manchmal wollen sie nichts mit ihm zu tun haben und manchmal wird er nur zum Schein mitgenommen, um ihn dann wieder auszusetzten.
Einige Patienten wohnen schon lange in dem Hospiz, andere wollen lieber zurück auf die Straße. Pro Woche sterben im Durchschnitt fünf Patienten. Sie erhalten ein schlichtes Begräbnis, dem ein Pfarrer und die Krankenschwestern beiwohnen.
Auch hier gab es nicht viele Personen, die Englisch sprechen konnten, doch entsprachen meine Aufgaben schon viel mehr dem, was ich mir vorgestellt hatte. Ich unterstützte die Patienten bei der Körperpflege und erledigte viele Putzarbeiten. Aber auch hier gab es Zeiten, in denen ich verzweifelt versuchte, die Freude an dem Nationalsport Indiens zu entdecken: Sitzen und Schauen.
In Dindighul lernte ich zwei Studentengruppen kennen, die als Volunteers halfen. Durch sie konnte ich mich endlich wieder richtig unterhalten und hatte jemanden, der mir meine Fragen beantwortete. Jetzt änderten sich meine Aufgaben, deren Erledigung in einer Gruppe natürlich auch mehr Spaß machte. Wir strichen zum Beispiel alle Betten neu oder besserten den mit Schlaglöchern übersäten Zufahrtsweg aus. Die Freundschaften, die ich dort geknüpft habe, sind bis heute erhalten.
Nach einiger Zeit nahm mich der Leiter, Father Thomas, mit in die Hauptstadt von Tamil Nadu: Chennai. Dort wird ein zweites Hospiz aufgebaut, das Platz für 500 Patienten bieten soll. In den fertigen Teilen leben schon jetzt an die 100 kranke Menschen. Allerdings geht die Arbeit aus Geldmangel immer nur schleppend voran.
Ich verbrachte vier Tage dort und half Father Thomas bei verschiedenen Besorgungen. Immer wenn wir in die Stadt fuhren, schauten wir an den Bahnhöfen und unter den Brücken, ob es Bedürftige gäbe, die wir mitnehmen könnten.
Das Hospiz hatte auch zwei Kinder adoptiert. Die Eltern des nahezu taub-stummen Mädchens waren im Hospiz gestorben. Die Mutter des kleinen Jorben wohnt im Hospiz, aber ihre psychische Verfassung erlaubt es ihr nicht, den Jungen großzuziehen.
Diese vier Tage in Chennai waren wirklich schön. Ich konnte mich mit vielen Leuten unterhalten und sah auch etwas vom Land. Allerdings begegnete uns hier deutlich mehr Armut, und die Patienten waren schwerer krank als in Dindighul. Andererseits hatte ich das Gefühl, helfen zu können und dass meine Arbeit etwas bedeutet. Indien ist ein Land, das vor Intensität fast platzt, bis zum Rand gefüllt mit leuchtenden Farben, würzigen Gerüchen und der unglaublich gelassenen Art der Menschen, mit dem Leben umzugehen. Und auch die Zeit, die ich dort verbracht habe, war eine sehr intensive Zeit. Voll mit den verschiedensten Gefühlen, Erfahrungen und Begegnungen. Es war ein Crashkurs fürs Leben, den ich nie vergessen werde und den ich jedem, dem die Abenteuerlust manchmal in den Fingern kribbelt, empfehlen würde.
Nicola Kuhle, elfte Klasse