Bochumer Modell
Wie eine Schule die Waldorfbewegung impulsiert hat.
Idee – Entwicklung – Verbreitung
Wie so oft, wenn etwas Neues entstehen soll, bedurfte es auch hier der Initiative eines Einzelnen. Da dieser Einzelne im Kollegium mit seinen Vorschlägen kein Gehör fand, lud er anfangs des Jahres 1996 die Kollegen privat zu einer Zukunftswerkstatt ein. Ein Viertel des Kollegiums kam. In angeregtem Gespräch wurde zusammengetragen, was Kinder und Jugendliche heute brauchen und wie Schule sich demnach ändern müsste. Am Ende waren alle Teilnehmer hoch motiviert. Der Bericht davon in der Konferenz zündete dann doch. Und so kam es dazu, dass die Konferenz beschloss, das Konzept der Schule zu überprüfen und, wenn nötig, zu ändern. Der Konzeptionsprozess wurde einer kleinen Gruppe (6 Personen) übergeben, die ihre Arbeit im engen Kontakt mit dem Kollegium durchführte. Von Anfang an wurden die Eltern mit einbezogen, in allen Elternabenden das Thema behandelt. Nach einem Jahr wurde ein Grobkonzept für die Klassen 1-12 vorgelegt und unter der Überschrift Schule 2000 verabschiedet (Erziehungskunst 10/1998). Dann ging es an die Feinarbeit, und dabei wurde die Eingangsstufe der Schule besonders in den Blick genommen. Aus einer intensiven pädagogischen Forschungs- und Entwicklungsarbeit ging dann ein neues Konzept für die 1. und 2. Klasse hervor, das im Schuljahr 1998/99 praktisch umgesetzt wurde und seither als Bochumer Modell bekannt ist.
Als wir im Januar 1999 auf der Delegiertentagung des Bundes der Freien Waldorfschulen in Lüneburg zum ersten Mal vom Bochumer Modell, diesem neuen Konzept für die 1. und 2. Klasse der Waldorfschule, berichteten, bekamen wir neben aufmunterndem oder anerkennendem Schulterklopfen auch bedenkliche Blicke zugeworfen. War das noch Waldorfpädagogik? Diese Frage war auch im eigenen Kollegium gestellt worden. Wo blieb der Hauptunterricht, der rhythmische Teil? Und die Kinder so nah am Boden, das war nicht gut! Unter denen, die sich positiv äußerten, waren auch Seminardozenten. Ob wir bereit wären, auch am Seminar einmal einen Bericht zu geben? Wir waren. Keiner von ihnen kam darauf zurück. Die Seminare interessieren sich bis heute nicht dafür. Bei den Schulen war das anders. Noch am Vormittag in Lüneburg entstanden erste Kontakte. Mit Kollegen einer Schule saßen wir, vorher verabredet, bis zum Mittag, erzählten von den Erfahrungen und gaben Tipps, wie zu beginnen sei. Ein halbes Jahr später begann man mit dem neuen Konzept. Bis heute wird es praktiziert, mit Erfolg und Begeisterung.
In der Folgezeit, vor allem nach dem schriftlichen Bericht (Erziehungskunst 6/1999) wurde die Bochumer Schule überschwemmt von Anfragen. Man wollte natürlich gerne mal erleben, wie das in der Praxis ablief. Es gab fast keine Woche ohne Hospitationen. Die Praxis hat viele endgültig überzeugt. In einige Schulen wurden wir eingeladen, um entweder in der Konferenz oder öffentlich Kollegen und Eltern zu unterstützen, die ein neues Konzept an ihrer Schule einführen wollten. Um dem großen Interesse nachzukommen, haben wir dann über mehrere Jahre Fortbildungsveranstaltungen zur Einführung in das Bochumer Modell und seine Praxis angeboten. Viele Kollegen kamen, manchmal aus einem Kollegium gleich eine ganze Gruppe, die dann zu Hause schlagkräftig genug waren, um nachhaltige Veränderungen bewirken zu können. Die wenigen Versuche Einzelner, an ihrer Schule das neue Konzept, gewissermaßen unter der Hand, einzuführen, sind fast alle gescheitert.
Heute gibt es weit mehr als fünfzig Schulen, einige davon in Österreich und in der Schweiz und in Übersee, die das Bochumer Modell ganz oder teilweise übernommen oder für ihre Situation abgewandelt haben, zwei oder drei auch, die sich dadurch zu einem eigenen Konzept anregen ließen. Dabei ist spannend zu sehen, wie es an jeder Schule ein eigenes Gesicht bekommt. Das konnten wir deutlich erleben, als wir im Frühjahr dieses und des vorigen Jahres zu einem Erfahrungsaustausch eingeladen hatten. Beide Male waren etwa vierzig Kollegen da und ca. fünfundzwanzig bis dreißig Schulen vertreten. Gemeinsam war allen Berichten die Erfahrung, dass die neuen Unterrichtsstrukturen und Unterrichtsformen den Kindern von heute entgegen kommen, dass die Kinder in ihnen aufleben und sich entfalten und stärken können. Und als es an den praktischen Austausch ging und einige Kollegen den anderen und mit ihnen ein Stück Unterricht zeigten, da war das beglückende Erlebnis, dass mit den neuen Möglichkeiten, wenn sie ergriffen werden, ein Stück ur-waldorfpädagogische, heute aber neu zu ergreifende Kreativität und Beweglichkeit einzog. Ein Zeichen dafür, dass mit dem Bochumer Modell kein Patent in die Welt gesetzt wurde, sondern ein Stein des Anstoßes, der erfreulich Fruchtbares bewirkt hat.
Das Bochumer Modell wird häufig mit niedrigen Sitzbänken und Kissen gleich gesetzt. Das ist falsch. Bänke und Kissen sind nur ein Teil des Konzeptes, und außerdem gar nicht neu. Was also ist das Bochumer Modell? Es ist eine Antwort auf die Situation der Kinder von heute. Kinder brauchen heute in der Schule etwas, was man früher voraussetzen konnte, worauf man in der Schule einfach bauen konnte. Wenn man heute weiter darauf baut, dann baut man auf schwankendem oder brüchigem Grund. Was den Kindern fehlt an Sinnesentwicklung, Bewegungsfähigkeit, Bindungsvermögen, Sozialverhalten und Rhythmusfähigkeit, das bildet die Basis für ein fruchtbares Lernen in der Schule. Und wenn diese Basis nicht oder nicht genügend vorhanden ist, dann sind Lern-, Verhaltens- und Entwicklungsstörungen die Folge. Hier setzt das Bochumer Modell an und möchte den Kindern Gelegenheit zur Nachreife geben. Und wenn die Kinder in Zukunft früher eingeschult werden, so bekommt das noch weit größere Bedeutung.
Fünf Kernbereiche haben sich bei der Entwicklung des Konzeptes herausgebildet. Die Kinder brauchen ein stabiles Fundament ihrer Körpersinne (Tastsinn, Vitalsinn, Bewegungssinn und Gleichgewichtssinn), sonst leiden nicht nur Lesen, Schreiben, Rechnen, sondern auch Aufmerksamkeit, Leistungsfähigkeit und Selbstvertrauen, ja überhaupt die spätere Lebensqualität (siehe hierzu: Wolfgang-M.Auer, Sinnes-Welten. Die Sinne entwickeln, Wahrnehmung schulen, mit Freude lernen. Kösel-Verlag München). Spiele und andere Erfahrungsformen dieser Sinne müssen also breiten Raum einnehmen, um die Kinder zu stärken. Ganz besonders gilt das für den zweiten Bereich, das Bewegen. Es braucht nicht nur Zeit im Stundenplan, sondern soll allen Unterricht durchziehen, soll Hauptelement des Lernens sein. Es muss ja dadurch der gesessene Rest des Tages auch noch ausgeglichen werden. Das mobile Klassenzimmer gibt die beste äußere Bedingung dafür ab. Es gibt viel Freiraum, macht Bewegung möglich, fordert sie sogar heraus. Sitzbänke und Kissen sind eine sehr praktikable Möglichkeit, von der viele Kollegen begeistert sind, es gibt aber auch andere Beispiele (Gehirn&Geist 7/04, S.70ff).
Nur auf starken Bindungserfahrungen wächst eine sichere Sozialfähigkeit. Daher ist das dritte Element eine starke Rolle des Klassenlehrers als Bezugsperson. Er begleitet die Kinder den ganzen Vormittag, lässt sie nicht allein, weil er wo anders unterrichtet, sondern gibt ihnen Schutz und ihren Erfahrungen Kontinuität. Eine besonders wichtige Rolle spielt dabei der regelmäßige Tagesabschluss. So können die Kinder in der ersten Schulzeit Sicherheit und Stärke entwickeln, wo sonst oft traumatische Erlebnisse entstehen, die die Schullaufbahn belasten.
Zu Beginn der Schulzeit wandeln sich die den Leib gestaltenden Lebenskräfte in Lernkräfte. In welchem Zustand sind sie aber, wenn kein Rhythmus sie gestärkt hat? Auch hier ist eine Nachreifung und Gesundung nötig und möglich. Voraussetzung ist ein von Tag zu Tag regelmäßiger Plan, so z.B. Englisch täglich eine halbe Stunde zur selben Zeit und das für eine Epoche von vier Wochen, dann die andere Fremdsprache; die anderen Fachunterrichte im Wechsel, aber in einem Zeitstreifen, der über die Woche an der selben Stelle des Vormittags liegt, ebenso der Tagesabschluss usw.. Der letzte Kernbereich gilt der Lebenspflege. Hier spielt das gemeinsame Frühstück eine wichtige Rolle, mit Ritualen, gegenseitigem Bedienen, höflichem Benehmen, gepflegter Unterhaltung. Für manche Kinder die erste Gelegenheit, ein gesundes Verhältnis zum Essen zu entwickeln.
Welche Struktur kommt dem entgegen? Eine solche, bei der der Schulvormittag eine Einheit bildet und nicht in 45-Minuten-Einheiten zerstückelt ist, bei der der Klassenlehrer mit den Fachlehrern ein Team bildet, das gemeinsam den Schultag gestaltet, wo Regelmäßigkeit und Rhythmus herrschen, verlässliche Beziehungen bestehen, wo Zeit und Gelegenheit zur Nachreifung der Basissinne vorhanden ist und das Bewegen ein bestimmendes Element alles Lernens ist. Daraus ergibt sich ein Idealplan, den man braucht, um den organisatorischen Widerständen und der Gewohnheitsträgheit der Kollegen so viel wie möglich abringen zu können. In diesem Idealplan empfängt der Klassenlehrer morgens die Kinder, hat viel Zeit für Sinnes- und Bewegungsspiele, Künstlerisches, den Lernstoff, kann mit den Kindern anschließend frühstücken, übergibt die Klasse an einen Fachlehrer und übernimmt sie wieder, lässt dann die Kinder zu einer ausführlichen Spielzeit hinaus, übergibt die Klasse danach einem anderen Fachlehrer oder gibt selbst das Fach und lässt den Vormittag mit dem Tagesabschluss, der einen Rückblick und die Klärung eventueller Probleme, einen Vorblick und die Geschichte enthält, ausklingen. Ein solcher Vormittag kann künstlerisch gegliedert und zum Atmen gebracht werden, selbst dann, wenn, wie in den meisten Fällen, nur ein Kompromiss und nicht das Ideal umgesetzt werden kann.
Hält ein Klassenlehrer das durch? Ja, und zwar dann, wenn er loslässt, sich von alten Gewohnheiten frei macht, oder noch keine hat, und sich auf die Freiheit, die das Konzept bietet, einlässt. Das gilt natürlich genau so für die Fachlehrer. Wer sich darauf einlässt, kann erleben, wie die eigene Kreativität wächst und die Lebendigkeit des Unterrichts zunimmt. Wer das neue Konzept an der Schule einführen will, muss wissen, dass es mit dem Einführen nicht getan ist. Es bedarf einer langen Begleitung und intensiven Betreuung, wenn es gelingen soll. Vor allem brauchen die Lehrer Unterstützung und Hilfen, um die anderen Verhaltensweisen, Methoden und Fähigkeiten zu entwickeln, die das Konzept erst fruchtbar machen. Es lohnt sich aber, und es kommt den Kindern zugute.
Wolfgang-M. Auer