Rubikon - „Ich bin hier, du bist dort"

Ein Text von Tatjana Sykora (Freie Waldorfschule Rastatt)

In der dritten Klasse gibt es an der Waldorfschule einige ganz besondere Epochen, wie zum Beispiel die Handwerker- und Urberufe-Epoche, den Feldbau (vom Korn zum Brot), den Hausbau (mit Bauwoche unter Mithilfe der Eltern), dann aber auch das Erzählen der Schöpfungsgeschichte, den Beginn der Sprachlehre und das schriftliche Rechnen und das Umrechnen von Maßen und Gewichten.

 

Zur Frage nach dem Sinn

Betrachtet man diese Epochen von außen, so kann sich manch einer fragen, wozu es dienen soll, den Kindern in diesem jungen Alter zum Beispiel das Mauern beizubringen oder aber warum ein Mensch im 21. Jahrhundert noch mit eigener Kraft und ohne Maschinenhilfe pflügen, eggen und säen oder aber etwas vom alten Handwerk verstehen sollte, das sowieso am Aussterben und eine recht brotlose Kunst ist. Auch das Kennenlernen der Inhalte des Alten Testaments scheint übertrieben, schließlich sind wir hier keine Schule für kleine Theologen. Was soll das also - Waldorfschule als Nostalgieschule, für Träumer und „Spinner"? Im wahrsten Wortsinne, wer spinnt heute noch Wolle mit dem Spinnrad?

Hinterfragen wir den von Rudolf Steiner gegebenen Lehrplan für die dritte Klasse also in obiger Art und Weise, so haben wir vergessen oder uns noch nicht bewusst gemacht, dass die Absicht der Waldorfpädagogik nicht ist, Informationen in unsere Kinder hineinzupacken, die sie später unverdaut wieder hinausgeben müssen. Die Absicht besteht vielmehr darin, dass sie geschöpft ist aus der Menschenkunde, was heißt, dass die Pädagogik und Methodik abgelesen wird von der Entwicklung des Kindes mit der dahinter stehenden Frage: „Was brauchen unsere Kinder in dem jeweiligen Alter, um sich gesund, im besten Sinne zu freudvollen, lebenskräftigen und -bejahenden, die Welt und die Menschen liebenden, mutigen Erwachsenen entwickeln zu können?" Wie ist das nun zu verstehen?

 

Rubikon: „Ich bin hier, du bist dort"

In der dritten Klasse befinden sich unsere Kinder zwischen dem neunten und zehnten Lebensjahr und das ist die Zeit, in der das Selbstbewusstsein erwacht, in der das eigene „Ich bin"-Bewusstsein aufwacht, ähnlich wie schon einmal mit drei Jahren, wenn die Kinder von sich selber als „Ich" zu sprechen beginnen und nicht mehr ihren Namen (Anna baut ein Haus - ich baue ein Haus) dafür gebrauchen.

Einerseits beginnen die Drittklässler nun die Dinge und Menschen wie von außen, als etwas dem eigenen Ich Gegenüberstehendes zu sehen und nicht mehr wie vorher mit der Umwelt sich völlig verbunden und mitschwingend zu fühlen. Sie können nun zum Beispiel beim Kanonsingen ihre Melodie halten (auch Lehrinhalt der dritten Klasse in Musik), auch wenn der neben ihnen Stehende an anderer Stelle singt. Dazu braucht es Ich-Kraft und das Sehenkönnen von „Ich bin hier, du bist dort". Andererseits flößt dieses plötzliche Erkennen des Alleinestehens auch Angst und Unsicherheit ein. Einsamkeit taucht auf. Aus dieser Einsamkeit und dem Sich-von-den-Anderen-getrennt-Fühlens entsteht auch besonders in der dritten Klasse der Hang zu Unehrlichkeiten, kleinen Lügen, ja sogar zum Klauen. Man kann ja nun den anderen täuschen, da er ja außen vor und nicht mehr als in einem drinstehend empfunden wird. Dies alles wird in der Waldorfpädagogik das „Überschreiten des Rubikons" genannt und mit Bezug zur Bibel erinnert dies an die Vertreibung aus dem Paradies.

 

Zusammenhang der Welt:

„Ich bin hier und kann dieses, du bist dort und kannst jenes"

Hier haben wir den Grund für die Epoche zur Schöpfungsgeschichte: Wenn die Kinder jetzt beginnen sich aus dem Kindheitsparadies des Ungetrenntseins vertrieben zu fühlen, stellen wir damit die gemeinsame Herkunft, das All-Eine, durch die Ackerbauepoche wieder vor sie hin, wie eine Erinnerung, die Vertrauen schenkt. Der nächste Grund für diese Epoche liegt auf der Hand: Aus dem Himmel auf die Erde geworfen, brauchen wir als Menschen nun nicht zu verzweifeln, denn wir selbst tragen die göttliche Kraft in uns, selber wieder Neues zu schaffen und durch unserer Hände Arbeit das Feld, die Erde zu bestellen und uns aus eigener Kraft zu ernähren. Gleichzeitig ist das Eingebundensein in den Kreislauf der Natur und somit in die Welt hier besonders deutlich zu spüren, da wir auf das Wetter und die Bodenbeschaffenheiten achten müssen, um erfolgreich zu ernten. In der Handwerkerepoche wird dies weiter vertieft, da die Kinder hier erleben können, wie ebenfalls aus eigener Kraft etwas geschaffen werden kann, womit wir fähig sind, uns selbst und unseren Mitmenschen das Leben auf der Erde gut einzurichten. Auch hier ist der Zusammenhang der Welt zu erkennen, da ich nicht ganz isoliert aus dem Nichts heraus etwas schaffen kann, sondern überall tauchen die vier Elemente Wasser, Feuer, Erde, Erde, Luft als Helfer für das Gelingen der menschlichen Arbeit auf.

 

Hausbauepoche

In der Hausbauepoche geht es nicht mehr um das Sich-selber-ernähren-Können (Tiere, die sich bewusstseinsmäßig stets in der Einheit befinden, wie eben auch kleine Kinder vor dem Rubikon, bekommen ihre Nahrung geschenkt; sie werden versorgt), sondern das Vertrauen zu stärken, dass wir hier nicht schutzlos dem Wind und Wetter ausgeliefert sind, sondern uns wiederum dank unserer eigenen Arbeitskraft eine Hülle, einen Schutz schaffen können. Damit dies aber gelingt, müssen wir einerseits unsere vorausplanende Gedankenkraft nutzen, andererseits müssen wir mit den anderen Menschen zusammenarbeiten. Hier wird wieder deutlich, dass wir nicht alles alleine tun können und müssen, sondern uns absprechen und auch die Fähigkeiten jedes Einzelnen nutzen dürfen. Auch hier ist für die Kinder spürbar: Ich bin hier und kann dieses, du bist dort und kannst jenes. Ist das Haus standfest gebaut, die Ernährung und das Überleben gesichert, so können die Kinder mit Mut und Vertrauen als Mensch hier auf der Erde wandeln, sich ihrer eigenen Schaffenskraft bewusst werdend.

 

Sprachlehre- und Rechenepoche

Um dieses gerade im Rubikon erwachende Ich-Bewusstsein zu stärken und zu üben, dazu dient nun die Sprachlehre- und Rechenepoche der dritten Klasse. Hier werden die Gedankenkräfte geübt, indem die Sprache, die die Kinder natürlich und unbewusst erlernen und schon benutzen, jetzt von außen betrachtet wird, Regeln und Gesetzmäßigkeiten darin gefunden werden, sozusagen das dahinter stehende Knochengerüst, die Grammatik beleuchtet wird. Die Kinder sind jetzt soweit, dass sie mit Spaß und Freude Strukturen entdecken können, eben weil sie nicht mehr in allem ganz drin stecken, sondern einen Standpunkt, von dem aus sie etwas anschauen können, beziehen und halten können. Deshalb beginnt zu diesem Zeitpunkt auch das schriftliche Rechnen: Jetzt rechnen sie nicht mehr nur innerlich, sondern müssen sich klar machen, wie gerechnet wird, wie die einzelnen Schritte gemacht werden. Auch hier wird ein erstes Mal innerer Vorgang von außen betrachtet. Das genaue Umgehen mit Maßen und Gewichten dient dazu, nicht einfach willkürlich zu rechnen, zu denken, sondern an der Welt festzumachen, ja geradezu abzulesen.

So begleiten wir die Kinder mit dieser Fülle von 3.-Klass-Epochen sicher in ihrem sich langsam entwickelnden Selbstbewusstsein. Mit diesem neu errungenen Selbstgefühl kann nun die Angst, die die Rubikon-Krise mit sich bringt, überwunden werden und die Kinder können erdengekräftigt in das vierte Schuljahr hinübergehen. In der vierten Klasse wird dann das eigene Standpunktfinden, -halten und -wechseln wie auch das Nutzen der Ich- und Gedankenkräfte geübt.

Aus: Festschrift, 10 Jahre Freie Waldorfschule Rastatt e. V., Schule als Lebensraum, Rastatt 2008

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