Der Rubikon – ein Meilenstein der ICH-Entwicklung
Ein Beitrag von Marcus Kraneburg (Freie Waldorfschule am Kräherwald / Stuttgart)
In der Waldorfpädagogik bezeichnet man mit dem „Rubikon“ einen Entwicklungsschritt, der sich beim Kind um das 9.-10. Lebensjahr vollzieht. Der Begriff ist der Geschichte entnommen. Der Rubikon war ein Grenzfluss, an dem sich Gallien und das Römische Reich berührten. Caesar überschritt diesen Fluss laut Sueton mit den Worten: „Alea iacta est“. (Die Würfel sind gefallen). Die innere Haltung Caesars, die zu dieser Entscheidung führte, kann zum Bild der Entwicklungssituation werden, in welcher sich das Kind im 9./10. Lebensalter befindet.
Zum Hintergrund ein kurzer geschichtlicher Abriss.
Nachdem Caesars Konsulat abgelaufen war, verließ er Rom und gliederte dem Römischen Reich durch Eroberungen die Provinz Gallien ein. Mit seinen zahlreichen Legionen war Caesar ein mächtiger Mann. In Rom jedoch, wo sich in seiner Abwesenheit die Stimmung zu seinen Ungunsten entwickelte, sah man in dieser Machtfülle eine zunehmende Bedrohung. Caesar strebte in Rom ein erneutes Konsulat an. Der Senat befahl ihm daher, vor seiner Rückkehr seine Legionen aufzulösen. Damit allerdings wäre er zum Spielball der in Rom herrschenden Kräfte geworden, zumal er ohne Amt seiner Immunität beraubt war.
Caesar vollzog am Rubikon einen folgenschweren Schritt: Entgegen des Senatsbefehls löste er seine Legionen nicht auf und betrat, indem er den Grenzfluss überschritt, römischen Boden. Damit wandte sich Caesar militärisch gegen das Land seiner Väter – er marschierte mit seinen Legionen Richtung Rom. Das hatte zuvor erst einer gewagt.
Worin besteht die Parallele zur Entwicklungssituation des 9–10jährigen Kindes?
- Betrachten wir Caesars Werdegang, so muss man erkennen, dass er seine politische Größe ganz und gar Rom verdankte. Wie selbstverständlich war er Teil dieses Staatsystems und agierte gemäß dessen Regeln und Gepflogenheiten.
Den Aspekt der Integration finden wir als Qualität beim jüngeren Kind im Verhältnis zu seiner Umgebung. Das kleine Kind ist noch ganz verschmolzen mit seiner Umwelt. Wie in einer sympathischen Symbiose ahmt das Kind seine Umgebung nach, ohne in irgendeiner Weise über sie zu reflektieren. Ein inneres sich Gegenüberstellen, ein inneres sich Getrenntempfinden ist dem Kleinkind unbekannt. Sein ICH bildet mit der Welt eine Einheit, sodass selbst leblose Gegenstände als belebt und beseelt empfunden werden können.
- Caesar verlässt nach seinem Konsulat Rom und geht nach Gallien. Gallien war vor den Eroberungen Caesars nicht einmal eine römische Provinz. In den Augen eines Römers war es Barbarenland.
Was bei Caesar die äußere Distanz zur Heimat ist, entdecken wir beim 9-10jähigen Kind als zunehmende Fähigkeit zur inneren Distanz. Das Kind bekommt zu dem, womit es einst so eng verbunden war, ein anderes Verhältnis. Es gehört zur gesunden Entwicklung des Kindes, dass sich ICH und Welt im Erleben voneinander trennen. Das Kind empfindet mehr oder weniger unbewusst: Ich bin ein Eigenes, ich bin ein Einzelnes und damit bin ich ein Getrenntes. Das Seelenleben stellt sich auf eine neue Basis.
- Das zuvor Undenkbare wird Realität: Caesar wendet sich gegen das Land seiner Väter. Er stellt sich somit gegen den Senat, die höchste politische Autorität des römischen Imperiums. Für unsere Betrachtung ist nicht entscheidend, dass es zum Bruch mit dieser Autorität kommt, sondern dass denkbar wird, was zuvor keinem Römer überhaupt eingefallen wäre: Der Marsch gegen Rom.
Ein 9-10jähiges Kind bedarf selbstverständlich weiterhin der Führung durch Autoritäten. Es braucht Menschen, zu denen es aufblicken kann, an denen es sich orientieren kann, und doch wird das, was zuvor gleichsam eine Einheit war, eine Zweiheit: also erstmals eine Beziehung zwischen einem Ich und einem Du. Durch die Fähigkeit, sich der Welt ein Stück mehr innerlich-distanziert gegenüberstellen zu können, werden nicht unbedingt einstige Autoritäten von ihrem Thron gestoßen, aber sie werden durch andere Augen angeschaut.
Für das 9-10jährige Kind handelt es sich um eine neue seelische Qualität, mit der es sich in die Welt stellen kann. Caesars Überschreiten des Rubikon kann in der oben beschriebenen Weise als Bild für diesen Entwicklungsschritt dienen. Obwohl der Mensch schon sehr früh zu sich „Ich“ sagen kann, macht er mit der Kindheit und Jugend einen langen Weg der Individualisierung durch. Dies bedeutet immer auch Trennung und das Gefühl der Distanz, welches später in der Pubertät zum Erlebnis der Einsamkeit wird. Es ist ein Weg in Etappen. Der Rubikon ist dabei gleichsam eine Neugeburt des Selbstempfindens. Eine Neugeburt auch deshalb, weil der Rubikon sich ereignet, nachdem der Zeitraum einer 9monatigen Schwangerschaft 12mal durchlaufen wurde.