Das Auge des Leoparden

Gefunden und in den Waldorf-Ideen-Pool gestellt von Uli Certain (Freie Waldorfschule am Kräherwald, Stuttgart)

Der Auszug aus „Das Auge des Leoparden" von H. Mankell beschreibt, wie ein etwa 10-jähriger Junge in einem einzigen Augenblick sich seines Ich bewusst wird.

„... An jenem hellen Sommerabend, als er sich hinter einem Brennofen versteckt hatte, um von seinen Spielkameraden entdeckt und gefangen zu werden, hatte er sich zum erstenmal die Frage gestellt, warum er er selbst war - und kein anderer. Der Gedanke hatte ihn gleichermaßen erregt und empört, hatte er doch das Gefühl, ein unbekanntes Wesen sei in seinen Kopf gekrochen und habe ihm das Losungswort für die Zukunft zugeflüstert. Von nun an würden ihm alle Gedanken und das Denken selbst wie eine Stimme von außen erscheinen, die in seinen Kopf kroch, ihre Botschaft überbrachte und auf dem schnellsten Wege wieder verschwand.

Damals hatte er aufgehört zu spielen, war davongeschlichen, zwischen den Kiefern verschwunden, von denen die tote Ziegelei umsäumt war, und zum Fluss hinunterge­gangen.

Im Wald war es still gewesen, noch hatten die Mückenschwärme das Städtchen nicht erobert, das an einer Bie­gung des Flusses auf dessen langem Weg zum Meer lag. Eine Krähe krächzte ihre Einsamkeit im Wipfel einer schief gewachsenen Kiefer heraus und flatterte dann über die Hügelkuppe davon, auf der sich die Straße nach Westen schlängelte. Das Moos unter seinen Füßen lederte, er war aus dem Spiel herausgetreten, und auf dem Weg zum Fluss veränderte sich alles. Solange er seine Identität nicht untersucht hatte, nur einer unter vielen war, trug er eine zeitlose Unsterblichkeit in sich, das Privileg des Kindes, tiefster Sinn der Kindlichkeit. In dem Augenblick aber, als er sich die unbekannte Frage, warum er gerade der war, der er war, in seinen Kopf einschlich, wurde er zu einer ganz bestimmten Person - und damit sterblich. Nun hatte er sich selbst bestimmt, er war der Mensch, der er war, wür­de nie ein anderer werden, und er erkannte, dass es keinen Sinn hätte, sich gegen diese Tatsache zu wehren. Von nun an hatte er ein Leben vor sich, ein einziges, in dem er er selbst sein würde.

Am Fluss setzte er sich auf einen großen Stein und blick­te auf das braune Wasser hinab, das träge Richtung Meer trieb. Ein Ruderboot ruckelte an einer Kette, und ihm wurde klar, wie einfach das Verschwinden sein könnte. Je­denfalls aus dem Städtchen, niemals jedoch aus sich selbst.

Lange blieb er so am Fluss sitzen und wurde erwachsen. Nun hatte alles Grenzen bekommen. Zwar würde er auch in Zukunft spielen, allerdings nie mehr so wie früher. Das Spiel war nun ein Spie! geworden, nicht mehr.

Er klettert über die Ufersteine, bis er das Haus erblickt, in dem er wohnt, setzte sich auf einen entwurzelten Baumstumpf der nach Regen und Erde riecht, und schaut dem aufsteigenden Rauch hinterher.

Wem soll er von seiner großen Entdeckung erzählen? Wer kann sein Vertrauter werden?

Wieder schaut er zum Haus hinüber. Soll er an die mor­sche Tür im Erdgeschoss rechts klopfen, um mit Eier-Karlsson zu sprechen? Darum bitten, in die Küche eintreten zu dürfen, in der es stets nach ranzigem Fett, nasser Wolle und Katzenpisse riecht? Aber mit Eier-Karlsson kann er nicht reden, weil der mit niemandem spricht. Er schließt seine Tür, als wollte er sich in eine eiserne Eierschale hüllen. Hans Olofson weiß von ihm nur, dass er böse und dick­köpfig ist. Er macht mit dem Fahrrad die Runde bei allen Bauernhöfen der näheren Umgebung und kauft Eier an, mit denen er anschließend diverse Kolonialwarenläden beliefert. Seinen Geschäften geht er immer frühmorgens nach, und den Rest des Tages verbringt er hinter der ver­schlossenen Tür ..."

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